Es ist nicht zu beanstanden, dass die Finanzbehörden das BMF, Schreiben betreffend „Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung des Coronavirus COVID-19/SARS-CoV‑2“ vom 19.03.2020 nicht auf Vollstreckungsmaßnahmen anwenden, die bereits vor Bekanntgabe dieses Schreibens durchgeführt worden sind. Steuerschuldner, gegen die bereits vor Bekanntgabe dieses Schreibens vollstreckt worden ist, können um Rechtsschutz (nur) nach den allgemeinen Regeln (z.B. § 258 AO)) ersuchen.

Zur Vermeidung unbilliger Härten gewährt die Finanzverwaltung Steuerpflichtigen, die von den Folgen der Corona-Pandemie besonders betroffen sind, verschiedene steuerliche Erleichterungen. Unter anderem soll unter bestimmten Voraussetzungen, die as Bundesministerium der Finanzen in seinem Schreiben vom 19.03.2020 „Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung des Coronavirus COVID-19/SARS-CoV‑2“ festgelegt hat, bis zum Ende des Jahres 2020 von Vollstreckungsmaßnahmen abgesehen werden. Diese Verwaltungsanweisung erfasst allerdings nicht bereits vor dem 19.03.2020 ergriffene Vollstreckungsmaßnahmen der Finanzbehörden.
In dem jetzt vom Bundesfinanzhof entschiedenen einstweiligen Rechtsschutzverfahren hatte die Steuerschuldnerin, ein in der EU ansässiges Unternehmen, erhebliche Steuerschulden, die bereits im Jahr 2019 festgesetzt worden waren. Aufgrund dieser Rückstände richtete jener EU-Mitgliedstaat ein Vollstreckungsersuchen an Deutschland. Das zuständige Finanzamt erließ daraufhin im Februar 2020 zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gegen mehrere deutsche Banken, bei denen die Steuerschuldnerin Konten unterhielt. Hiergegen wendete sich die Steuerschuldnerin, und zwar u.a. mit dem Argument, aufgrund ihrer durch die Corona-Pandemie bedingten erheblichen Einnahmeausfälle müsse entsprechend dem BMF, Schreiben vom 19.03.2020 von Vollstreckungsmaßnahmen abgesehen werden.
Anders als erstinstanzlich noch das Hessische Finanzgericht, das dem Steuerschuldner teilweise Recht gegeben hat[1], wies der Bundesfinanzhof den AdV-Antrag nun jedoch ab: Im BMF-Schreiben sei von einem „Absehen“ von Vollstreckungsmaßnahmen die Rede. Das deute darauf hin, dass sich die Verschonungsregelung nur auf solche Vollstreckungsmaßnahmen beziehe, die noch nicht durchgeführt worden seien. Dem Wortlaut des Schreibens lasse sich jedenfalls nicht entnehmen, dass bereits vor dem 19.03.2020 ergriffene Vollstreckungsmaßnahmen – wie von der Steuerschuldnerin begehrt – wieder aufgehoben oder rückabgewickelt werden müssten.
Diese Erwägungen gelten auch für inländische Sachverhalte, in denen der Vollstreckungsschuldner in Deutschland ansässig und mit der Zahlung von deutschen Steuern säumig geworden ist.
Das Hessische Finanzgericht hat die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zu Unrecht teilweise von der Vollziehung ausgesetzt und zu Unrecht teilweise die Vollziehung aufgehoben. Bei der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung anhand der präsenten Akten bestehen keine Zweifel daran, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rechtmäßig sind. Die Vollziehung hat für die Steuerschuldnerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO).
Das Finanzgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Antrag der Steuerschuldnerin, die Vollziehung der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über das Klageverfahren ohne Sicherheitsleistung auszusetzen bzw. aufzuheben, zulässig ist.
Pfändungs- (§ 309 AO) und Einziehungsverfügungen (§ 314 AO) sind Verwaltungsakte, deren Vollziehung gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 69 Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO vom Gericht der Hauptsache ausgesetzt werden kann, wenn das Finanzamt die AdV der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen abgelehnt hat (§ 69 Abs. 4 Satz 1 FGO) oder die Vollstreckung droht (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO). Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO kann das Gericht auch ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung, auch gegen Sicherheit, anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen ist. Der AdV-Antrag kann schon vor Erhebung der Klage gestellt werden (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO).
Hiernach ist der Antrag im Streitfall zulässig, die Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 Sätze 1 und 3 FGO sind erfüllt. Die AdV wurde vom Finanzamt abgelehnt. Die Vollstreckung drohte bzw. war im Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzgericht bereits im Gange. Der AdV-Antrag wurde zulässigerweise vor Erhebung der Klage gestellt. Da diese fristgerecht erhoben wurde, sind die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nach wie vor angefochtene Verwaltungsakte i.S. des § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 AO.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet. Das Finanzgericht hat zu Unrecht teilweise AdV gewährt.
Im Streitfall bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.
Die AdV setzt nicht voraus, dass die für die Rechtswidrigkeit und Unwirksamkeit sprechenden Gründe überwiegen[2]. Ernstliche Zweifel bestehen jedoch nur dann, wenn bei Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund präsenter Beweismittel und des unstreitigen Sachverhalts erkennbar wird, dass aus gewichtigen Gründen Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen könnte[3].
Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt.
Nach dem EUBeitrG wird Amtshilfe im Bereich der Beitreibung in Bezug auf Forderungen im Zusammenhang mit Steuern (i.S. des § 3 Abs. 1 AO) und Abgaben einschließlich der Forderungen aus Haftungsbescheiden und steuerlichen Nebenleistungen (i.S. des § 3 Abs. 4 AO), wie etwa Säumniszuschlägen[4], geleistet (§ 1 EUBeitrG, Art. 2 EUBeitrRL), wenn der Mindestbetrag von 1.500 € (§ 14 Abs. 1 EUBeitrG, Art. 18 Abs. 3 EUBeitrRL) überschritten wird und die Forderungen nicht betagt sind (§ 14 Abs. 2 EUBeitrG, Art. 18 Abs. 2 EUBeitrRL).
Diese allgemeinen Voraussetzungen lagen im Streitfall vor. Der EU-Mitgliedstaat ersuchte um Beitreibung einer der Körperschaftsteuer vergleichbaren Steuer sowie der hierauf entfallenden Zinsen und Säumniszuschläge. Der Mindestbetrag ist überschritten. Die Forderungen waren nicht älter als fünf bzw. zehn Jahre.
Das Finanzamt war für den Erlass der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EUBeitrG sachlich und gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 EUBeitrG i.V.m. § 25 Satz 1 AO örtlich zuständig, da für die Vollstreckung aufgrund des Beitreibungsersuchens im Hinblick auf einen fehlenden Geschäftssitz im Inland und die bei verschiedenen Banken unterhaltenen Guthaben im Grundsatz mehrere Ämter zuständig waren und das Finanzamt durch das Verbindungsbüro beim BZSt zuerst mit der Sache befasst worden ist. Eine vorrangige andere Zuständigkeit gemäß §§ 19 ff. AO bestand nicht. § 20 Abs. 3 AO betrifft das Besteuerungs- und nicht das Vollstreckungsverfahren.
Das BZSt musste eine Auswahl treffen, um eine unabgestimmte Vollstreckung mehrerer Finanzbehörden aus einem einheitlichen Vollstreckungstitel zu verhindern; entgegen der unsubstantiierten Behauptung der Steuerschuldnerin hat es diese auch getroffen, denn es hat die Hessische Finanzverwaltung und letztlich das Finanzamt mit der Vollstreckung beauftragt. Dies war nicht willkürlich, da für eine etwaige Einziehungsklage gegen die Z‑Bank nach den Feststellungen des Finanzgericht Frankfurt am Main der allgemeine Gerichtsstand (§ 17 ZPO) gewesen wäre, und da das BZSt wusste oder es zumindest nahelag, dass ein international tätiges Unternehmen wie die Steuerschuldnerin bei dieser Bank ein Konto unterhält. Dass sich später herausgestellt hat, dass die gepfändete Forderung das Guthaben einer Zweigniederlassung betraf, dass die Z‑Bank eine sog. Pfändungsabteilung in D‑Stadt unterhält, an welche die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen adressiert wurden, oder dass bei einer anderen Bank letztlich am meisten beigetrieben werden konnte, ändert an der Zuständigkeit des Finanzamt gemäß § 25 Satz 1 AO nichts, weil die Zuständigkeit vor Erlass des Verwaltungsaktes feststehen muss.
Im Übrigen findet im Streitfall auch § 127 AO Anwendung, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung von Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EUBeitrG steht die Beitreibung aufgrund des EGBeitrG nicht im Ermessen der ersuchten Behörde, sondern ist auf Antrag der ersuchenden Behörde bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend durchzuführen[5]. Angesichts der finanziellen Situation der Steuerschuldnerin, die nach ihren Angaben bereits zum 31.12.2019 überschuldet war, hatte sie objektiv keine Möglichkeit, die Zwangsvollstreckung durch Zahlung oder Sicherheitsleistung zu vermeiden; dies behauptet sie auch nicht. Im Hinblick auf die Höhe der beizutreibenden Forderungen sowie mangels sonstigem Vermögens der Steuerschuldnerin bestand auch kein Auswahlermessen des Finanzamt. Es musste gegenüber allen kontoführenden Banken im Inland eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung erlassen.
Der Vorwurf der Steuerschuldnerin, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien zu unbestimmt und in sich widersprüchlich, trifft nicht zu. Gleiches gilt für den Einwand, das Finanzamt habe als Vollstreckungsgläubiger das Land Hessen angegeben und gegen den Grundsatz verstoßen, dass die Adressaten der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen erfahren müssen, um welche Ansprüche es sich handelt, um über Zahlungen und bzw. oder das Ergreifen von Rechtsmitteln entscheiden zu können[6].
Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen sind, wie jeder Verwaltungsakt, nach dem objektiven Empfängerhorizont auszulegen. Adressaten waren mehrere deutsche Großbanken, die eigene Vollstreckungsabteilungen unterhalten, sowie die Steuerschuldnerin ‑ein weltweit tätiges größeres Schifffahrtsunternehmen‑, die nach ihren Angaben mittelbar einer deutschen KG gehört. Geht einem derartigen Unternehmen eine Pfändung in einer Größenordnung von rund 6 Mio. € zu, ist der objektive Empfängerhorizont eines einschlägig Rechtskundigen maßgeblich, denn ein solcher wird (objektiv betrachtet) von einem derartigen Unternehmen mit der Angelegenheit befasst werden. Der objektive Empfängerhorizont ist somit im Streitfall bei allen Beteiligten der eines im Geschäfts- und Rechtsverkehr einschlägig erfahrenen Adressaten.
Vor diesem Hintergrund war die Angabe in den Verfügungen, die Steuerschuldnerin schulde dem Land Hessen 5.925.648, 30 € i.V.m. der jeweils beigefügten Rückstandaufstellung eindeutig. Denn gemäß §§ 250 Abs. 1 Satz 1, 252 AO, deren Kenntnis nach dem im Streitfall zu berücksichtigenden objektiven Empfängerhorizont unterstellt werden kann, gilt im Vollstreckungsverfahren die Körperschaft als Gläubigerin der zu vollstreckenden Ansprüche, der die Vollstreckungsbehörde angehört. Aus der beigefügten Rückstandsaufstellung ergab sich, dass es sich bei den beizutreibenden Forderungen um solche des EU-Mitgliedstaats handelte und dass das Land Hessen bzw. das Finanzamt aufgrund eines Beitreibungsersuchens dieses Staates tätig wurde. Unklar oder in sich widersprüchlich ist das nicht.
Daran ändert nichts, dass der Steuerschuldnerin nach Aktenlage zusätzlich zu den Zweitschriften der ‑vom jeweiligen Adressaten (Drittschuldner bzw. Bank) und jeweils einer Ziffer des Gz. abgesehen- wortgleichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nur eine einzige Rückstandsaufstellung übermittelt worden ist, die das Gz. einer der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen trug.
Dass die der Steuerschuldnerin und den Banken übermittelten Rückstandsanzeigen außerdem einen Schreibfehler im Datum aufwiesen(04.02. statt 05.02.2020) spielt gleichfalls keine Rolle. Das Finanzgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei dem Verweis auf eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 04.02.2020 in den Rückstandsanzeigen, die den Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.02.2020 beigefügt waren, erkennbar um einen bloßen Schreibfehler oder um eine sonstige, jederzeit berichtigungsfähige offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO handelt. Unklar oder widersprüchlich waren die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen deshalb nicht.
Entscheidend ist, dass die Schriftstücke nach Aktenlage zusammen verschickt wurden und jeweils auf Forderungen in Höhe von 5.925.648,30 € bezogen waren.
Insoweit unterscheidet sich der Streitfall von dem Sachverhalt, der dem Beschluss des Finanzgerichts Münster in EFG 2020, 419 zugrunde lag, in einem wesentlichen Punkt. Denn dort war es ausweislich der Feststellungen des Finanzgericht nicht ersichtlich, dass Ansprüche der luxemburgischen Finanzverwaltung Gegenstand der Pfändung sein sollten. Eine weitere Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Finanzgerichts Münster in EFG 2020, 419 erübrigt sich somit im Streitfall.
Die unsubstantiierte Behauptung der Steuerschuldnerin, die formalen Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EUBeitrG, § 10 Abs. 3 EUBeitrG bzw. Art. 12 Abs. 1 EUBeitrRL hätten nicht vorgelegen, weil in dem EU-Mitgliedstaat schon kein Titel i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 EUBeitrG in der in dem einheitlichen Vollstreckungstitel ausgewiesenen Höhe vorgelegen habe oder weil der einheitliche Vollstreckungstitel gemäß § 10 Abs. 3 EUBeitrG bzw. Art. 12 Abs. 1 EUBeitrRL am 05.02.2020 noch nicht vorgelegen habe, sind nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zu wecken. Da der einheitliche Vollstreckungstitel aus den Daten im übermittelten elektronischen Formblatt „Ersuchen um Beitreibung oder Sicherungsmaßnahmen“ von der ersuchten Behörde generiert wird[7], geht er zwangsläufig mit dem Beitreibungsersuchen zu. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 EUBeitrG gilt der dem Ersuchen beigefügte einheitliche Vollstreckungstitel als vollstreckbarer Verwaltungsakt, weshalb die ersuchte Behörde nicht kontrollieren muss, ob dieser mit der Bescheidlage im ersuchenden Mitgliedstaat übereinstimmt. Vielmehr verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten von jedem Mitgliedstaat, dass er ‑abgesehen von außergewöhnlichen Umständen- davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Dieses Vertrauen wird nur dann erschüttert, wenn hinreichende Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen grundrechtliche Mindeststandards darlegt werden[8]. Die Darlegungs- und Beweislast für Auslandssachverhalte liegt bei den Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 Satz 1 AO)[9].
Der von der Steuerschuldnerin vorgelegte Abdruck einer Entscheidung der zuständigen Behörde des ersuchenden EU-Mitgliedstaats vom 26.04.2019, wonach die Steuerschuldnerin wohl aus der Hauptforderung I zum damaligen Zeitpunkt bereits rund 4,8 Mio. € zuzüglich Zinsen, zusammen also rund 5,3 Mio. € schuldete, ist nicht geeignet, derartige Zweifel in Bezug auf das Beitreibungsersuchen vom 09.01.2020, welches drei Hauptforderungen zuzüglich Zinsen und Säumniszuschlägen betrifft, zu wecken. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, der ersuchende Mitgliedstaat könne versucht haben, durch ein Beitreibungsersuchen mehr Steuern beizutreiben, als festgesetzt worden waren, wie die Steuerschuldnerin behauptet. Im Übrigen bleiben die von den streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen erfassten Kontoguthaben weit hinter dem Betrag von rund 5,3 Mio. € zurück, welche auch nach dem Vortrag der Steuerschuldnerin im Zusammenhang mit der Hauptforderung I festgesetzt worden sind.
Die Steuerschuldnerin kann die Aufhebung der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nicht deshalb verlangen, weil im Streitfall ‑entgegen dem BMF-Merkblatt in BStBl I 2014, 188, Nr. 4.2.4.- vor deren Erlass keine Zahlungsaufforderung mit 14-tägiger Frist ergangen ist, auch wenn der Bundesfinanzhof zum früheren Recht entschieden hat, dass ein derartiges Merkblatt Außenwirkung entfaltet[10].
Der Bundesfinanzhof kann im Streitfall offenlassen, ob er hieran festhält, denn gemäß § 127 AO kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist. Wie ausgeführt, stand die Beitreibung im Streitfall nicht im Ermessen des Finanzamtes.
Die Vollstreckung aufgrund eines Beitreibungsersuchens ist möglich, auch wenn der zu vollstreckende Verwaltungsakt angefochten ist (§ 10 Abs. 1 EUBeitrG, Art. 11 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 4 EUBeitrRL).
Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, soweit der ersuchende EU-Mitgliedstaat das Begründungsgebot des § 13 Abs. 3 Satz 2 EUBeitrG zunächst nicht beachtet hat.
Nach der im Streitfall gebotenen summarischen Prüfung spricht viel dafür, dass das Begründungsgebot in erster Linie dazu dient, dem ersuchenden Mitgliedstaat vor Augen zu führen, dass eine Vollstreckung angefochtener Forderungen mit einem Haftungs- bzw. Entschädigungsrisiko (§ 13 Abs. 3 Satz 3 EUBeitrG) verbunden ist und deshalb nur aus guten Gründen angestrengt werden sollte. Auch sind Einwendungen in Bezug auf Fehler des ersuchenden Mitgliedstaats ‑insbesondere gegen die Abgaben- und Steuerfestsetzung sowie das Beitreibungsersuchen gemäß § 13 Abs. 1 und 2 EUBeitrG (Art. 14 Abs. 1 und 2 EUBeitrRL)- grundsätzlich nur gegenüber dem ersuchenden Staat (hier dem EU-Mitgliedstaat) geltend zu machen.
Im Streitfall kann jedoch letztlich dahinstehen, ob das Begründungsgebot drittschützend ist. Denn ein etwaiger Verstoß gegen die Begründungspflicht durch die ersuchende Behörde kann jedenfalls nach dem Rechtsgedanken des § 126 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz des finanzgerichtlichen Verfahrens geheilt werden. Im Streitfall hat der ersuchende EU-Mitgliedstaat somit Gelegenheit, seine bisherigen Schreiben vor dem Ergehen einer Entscheidung in der Hauptsache noch einmal daraufhin zu überprüfen, ob sie eine ausreichende Begründung enthalten, und diese gegebenenfalls nachzuholen bzw. zu ergänzen.
Es bestehen außerdem auch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, weil das Finanzamt das BMF, Schreiben in BStBl I 2020, 262 nicht (analog) angewandt hat. Nach der Rechtsprechung des BFH ist für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie die Finanzgerichte die Verwaltungsanweisung verstehen, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Die Finanzgerichte dürfen daher Verwaltungsanweisungen nicht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist[11].
Ist in einer Norm, in einer eine Norm ersetzenden Verwaltungsvorschrift oder in einem Erlass kein Zeitpunkt angegeben, ab dem die Regelung gelten soll, und lässt sich ein derartiger Zeitpunkt auch nicht durch Auslegung ermitteln, tritt die Regelung regelmäßig mit ihrer Bekanntgabe in Kraft. Im BMF, Schreiben in BStBl I 2020, 262 ist kein spezieller Zeitpunkt angegeben, ab dem die Regelungen gelten sollen. Nr. 3 Satz 2 des Schreibens lässt sich jedoch entnehmen bzw. bestätigt, dass maßgeblicher Zeitpunkt, ab dem die Verwaltung in Vollstreckungsangelegenheiten Zurückhaltung üben will, die Veröffentlichung des Schreibens (in elektronischer Form) am 19.03.2020 ist. Der Begriff des „Absehens“ i.S. der Nr. 3 Satz 1 dieses Schreibens deutet auch darauf hin, dass Maßnahmen gemeint sind, die noch nicht durchgeführt worden sind[12]. Jedenfalls kann dem Schreiben nicht entnommen werden, dass Vollstreckungsmaßnahmen, die vor Veröffentlichung dieses Schreibens ergriffen worden sind, wieder aufzuheben oder rückabzuwickeln sind. Bei diesem Befund ist davon auszugehen, dass die Verwaltungsanweisung mit ihrer Bekanntgabe in Kraft getreten ist. Ließe sich dieses Ergebnis nur durch Auslegung ermitteln, hält der beschließende Bundesfinanzhof ein solches Verständnis des BMF, Schreibens zumindest für möglich.
Somit könnten auch Inländer in einer vergleichbaren Situation eine AdV nicht unter Berufung auf dieses Schreiben erreichen. Die unterlassene Anwendung dieses Schreibens stellt deshalb keinen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 ff. AEUV dar (die, was das Finanzamt übersehen hat, auch zugunsten von in Drittstaaten ansässigen Personen zu beachten ist).
Die Annahme der Finanzbehörde, das BMF-Schreiben in BStBl I 2020, 262 betreffe nur Vollstreckungsmaßnahmen, die nach seiner Bekanntgabe am 19.03.2020 ergriffen werden, führt auch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, denn Art. 3 GG lässt Stichtagsregelungen zu, sofern diese nicht zu willkürlichen Ergebnissen führen. Wird eine Begünstigung eingeführt, so ist es regelmäßig nicht geboten, bereits verwirklichte Sachverhalte in die Begünstigung mit einzubeziehen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Vollstreckungsschuldner in derartigen Fällen rechtsschutzlos gestellt sind. Vielmehr gelten insoweit die allgemeinen Regeln, insbesondere § 258 AO. Der Antragsteller ist dann, wenn die Verwaltung die Regelung in Nr. 3 des BMF, Schreibens in BStBl I 2020, 262 nicht zu seinen Gunsten anwendet, lediglich stärker gefordert, darzulegen, weshalb die Aufrechterhaltung der Vollstreckungsmaßnahme wegen der Corona-Pandemie oder aus anderen Gründen unbillig ist bzw. weshalb ihm einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren ist. Diese Verteilung der Darlegungslast ist gerechtfertigt, denn in den Fällen, in denen vor dem 19.03.2020 Vollstreckungsmaßnahmen ergriffen worden sind, kann die Corona-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen für die der Vollstreckung vorangehende Nichtbegleichung von Abgaben- und Steuerschulden (trotz Mahnung) kaum ursächlich sein.
Es gibt keinen Grund, Schuldner, die vor und völlig unabhängig von der Corona-Pandemie und den staatlichen Beschränkungen ihre Steuer- und Abgabenschulden nicht getilgt haben ‑denen gegenüber somit Vollstreckungsmaßnahmen erforderlich waren‑, besser zu stellen als diejenigen, die ihren Zahlungsverpflichtungen (gegebenenfalls erst nach Aufnahme eines Bankkredits) nachgekommen sind, indem man zu ihren Gunsten die Regelung in Nr. 3 des BMF, Schreibens in BStBl I 2020, 262 generell auf vor dem 19.03.2020 ergriffene Maßnahmen der Zwangsvollstreckung anwendet. Dies widerspräche dem aus Art. 3 GG abgeleiteten Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Die Finanzbehörden sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die wegen Verwirklichung eines steuerrechtlichen Tatbestands entstandenen Steueransprüche (§ 38 AO) festzusetzen und die Steuer zu erheben. Einen im Belieben der Finanzverwaltung stehenden, freien Verzicht auf Steuerforderungen gibt es nicht. Auch im Wege von Verwaltungserlassen dürfen die Finanzbehörden Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Besteuerung nicht zulassen, denn auch der Verzicht auf den Steuereingriff bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Fehlt diese, können die Finanzbehörden von der Festsetzung und Erhebung gemäß § 38 AO entstandener Steueransprüche nicht absehen[13].
Selbst wenn man in Bezug auf die Geltung des BMF, Schreibens eine andere Auffassung vertreten würde[14], könnte der AdV-Antrag der Steuerschuldnerin (unabhängig davon, wo sie geschäftsansässig ist) abgelehnt werden. Denn nach diesem Schreiben „soll“ nur von der Vollstreckung abgesehen werden, d.h. in besonders gelagerten Fällen kann die Vollstreckung durchgeführt werden. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die angestrebte AdV mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zu einem bloßen Zahlungsaufschub führen würde und zur Vermeidung einer vermeidbaren Insolvenz beitragen kann, sondern im Ergebnis lediglich dazu führt, dass andere Gläubiger oder die Gesellschafter bzw. Anteilseigner des bereits vor der „Corona-Krise“ überschuldeten oder zahlungsunfähigen Steuerschuldners zu Lasten des (hier ausländischen) Fiskus begünstigt werden. Dies entspricht auch nicht der Intention des BMF, Schreibens in BStBl I 2020, 262 und der Rechtsprechung zu § 258 AO[15], deren Rechtsgedanken auch im Verfahren gemäß § 69 AO Berücksichtigung finden können.
Die Steuerschuldnerin war nach ihrem eigenen Vortrag bereits zum 31.12.2019, also vor Ausbruch der Corona-Pandemie, überschuldet, hat seither zusätzliche, massive Einnahmeausfälle zu verzeichnen und will mit dem Geld nach eigenen Angaben Schiffshypothekendarlehen bei den kreditgebenden Banken und andere Forderungen bedienen. Angaben dazu, wie eine Tilgung der Forderungen des um Beitreibung ersuchenden Mitgliedstaats nach dem 31.12.2020 möglich sein soll oder wie sie ihre Zahlungsunfähigkeit überwinden will, hat die Steuerschuldnerin nicht gemacht. Vor diesem Hintergrund besteht kein Anlass zu der Annahme, dass es in ihrem Fall um einen bloßen Zahlungsaufschub oder die Verhinderung einer vermeidbaren Insolvenz geht, sondern dass das antragsgemäße Gewähren einer AdV lediglich einzelne Gläubiger oder die Anteilseigner bzw. Gesellschafter begünstigen würde und zu einem endgültigen Forderungsausfall des Fiskus ‑hier dem des ersuchenden Staats- und damit letztlich zu einem Erlass (§ 227 AO) führen würde. Eine derartige Entscheidung widerspräche auch der Kompetenzverteilung bei der Amtshilfe. Sollte ‑aus welchen Gründen auch immer- eine in ihren Wirkungen einem Erlass gleichkommende AdV in Betracht kommen, müsste hierüber regelmäßig von der ersuchenden Behörde entschieden werden und nicht von einer um Amtshilfe bzw. Beitreibung ersuchten Behörde.
Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass das auch einem Inländer unter im Übrigen gleichgelagerten Umständen nicht aufgrund des BMF, Schreibens in BStBl I 2020, 262 AdV zu gewähren wäre. Dass das Finanzamt (wenn auch mit anderer Begründung) das genannte Schreiben nicht zugunsten der Steuerschuldnerin angewandt hat, stellt deshalb im Ergebnis (vgl. hierzu den Rechtsgedanken des § 126 Abs. 4 FGO) keine nach Art. 63 AEUV unzulässige Diskriminierung dar. Deshalb ist eine Stellungnahme zum weiteren Vortrag der Steuerschuldnerin zu Art. 63 ff. AEUV, insbesondere zu Fragen der faktischen Kontosperre und zu Art. 65 Abs. 1 Buchst. a AEUV entbehrlich.
Im Streitfall ist die Vollstreckung weder i.S. des § 14 Abs. 1 EUBeitrG unbillig noch stört sie die öffentliche Ordnung Deutschlands. Sie verstößt nicht gegen den ordre public i.S. des Art. 6 EGBGB und ist nicht geeignet, i.S. des Art. 18 EUBeitrRL erhebliche wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten in Deutschland zu bewirken.
Die Verpflichtung der ersuchten Behörde, Amtshilfe zu leisten, besteht nicht schrankenlos. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 EUBeitrG wird Amtshilfe nicht geleistet, wenn die Vollstreckung unbillig wäre. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn sie gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) verstoßen, die öffentliche Ordnung des ersuchten Mitgliedstaats stören oder erhebliche wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten in Deutschland bewirken würde. Gemäß Art. 6 Satz 1 EGBGB ist eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist (Art. 6 Satz 2 EGBGB). Der Gerichtshof der Europäischen Union[16] und ihm folgend der Bundesfinanzhof[17] sind deshalb in Bezug auf die frühere Rechtslage davon ausgegangen, dass eine Ausnahme von dem ‑der Kompetenzverteilung folgenden- Grundsatz, die Wirksamkeit und die Vollstreckbarkeit der beizutreibenden Forderung sei von der ersuchten Behörde nicht zu prüfen, zuzulassen ist, wenn die Vollstreckung dieses Titels unbillig wäre, gegen den ordre public gemäß Art. 6 EGBGB verstoßen würde oder die öffentliche Ordnung des ersuchten Mitgliedstaats stören würde. Durch das Inkrafttreten des EUBeitrG ist diese Rechtsprechung nicht überholt[18].
Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24.04.2014[19], wonach eine ordre public-Überprüfung im Vollstreckungsstaat nicht stattfindet, wenn in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ein Titel als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigt wird, betrifft nicht das EUBeitrG, sondern die Vollstreckung zivilrechtlicher Forderungen. Aus dem dort maßgeblichen Regelungswerk sind Steuerforderungen und andere „acta jure imperii“ ausdrücklich ausgenommen (Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.04.2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen), weshalb eine weitere Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BGH insoweit nicht erforderlich ist.
Ein Versagungsgrund gemäß § 14 Abs. 1 EUBeitrG kann etwa dann gegeben sein, wenn der Vollstreckungstitel aus einem Verfahren hervorgegangen ist, das von den Grundsätzen des deutschen Verfahrensrechts in einem solchen Maß abweicht, dass er nicht als in einem geordneten rechtsstaatlichen Verfahren ergangen angesehen werden kann[20]. Im Übrigen verlangt ‑wie bereits ausgeführt- der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten von jedem Mitgliedstaat, dass er ‑abgesehen von außergewöhnlichen Umständen- davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Wird keine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts dargetan, prüft die ersuchte Behörde die materielle Richtigkeit der Forderung und die Vollstreckbarkeit des Vollstreckungstitels nicht. Entsprechende Fehler sind dann allein im ersuchenden Staat geltend zu machen (§ 13 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EUBeitrG; Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 EUBeitrRL)[21].
Nach diesen Grundsätzen war das Finanzamt im Streitfall nicht gehindert, dem Beitreibungsersuchen nachzukommen. Denn die Vollstreckung aufgrund dieses Ersuchens ist nicht mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar und auch nicht aus anderen Gründen i.S. des § 14 Abs. 1 EUBeitrG unbillig.
Es verstößt nicht gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB), wenn die zuständige Behörde des um Beitreibung ersuchenden EU-Mitgliedstaats die dortige, dem BMF-Schreiben in BStBl I 2020, 262 entsprechende Regelung, die erst im April 2020 erlassen worden ist, nicht rückwirkend auf das Beitreibungsersuchen vom 09.01.2020 bezieht, dem das Finanzamt durch Pfändungs- und Einziehungsverfügungen vom 05.02.2020 bereits nachgekommen war, bevor die Corona-Pandemie wirtschaftliche Auswirkungen entfalten konnte. Auch in Deutschland ist eine Anwendung des BMF, Schreibens in BStBl I 2020, 262 auf vor seiner Bekanntgabe erfolgte Vollstreckungsmaßnahmen nicht geboten.
Die für den Auslandssachverhalt darlegungs- und beweispflichtige Steuerschuldnerin hat nicht substantiiert dargelegt, weshalb der mit Hauptforderung I bezeichnete Steueranspruch auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht, wie sie behauptet. Sie hätte zumindest den Gesamtzusammenhang der Regelung und die konkreten Auswirkungen auf ihre Besteuerung über die Veranlagungszeiträume hinweg darstellen müssen. Unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung der maßgeblichen Regelungen, etwaige Rechtsirrtümer oder (wirtschaftliche) Fehlprognosen der Steuerschuldnerin bei der Wahl der Tonnagebesteuerung in dem EU-Mitgliedstaat stehen einer Vollstreckung jedenfalls nicht entgegen. Bei der Tonnagesteuer zahlt der Reeder im Regelfall direkt auf die betriebene Tonnage eine Steuer, unabhängig von den tatsächlichen Einkünften, Gewinnen oder Verlusten. Sollte sich die Wahl im Nachhinein als ungünstig erweisen, besteht nicht ohne Weiteres ein Grund zu der Annahme, dass die Vollstreckung einer in der Folge entstandenen Steuerforderung des EU-Mitgliedstaats unbillig wäre, zumal nach den Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Beihilfen im Seeverkehr[22] davon auszugehen ist, dass das Ersetzen der Körperschaftsteuer durch eine Tonnagesteuer eine staatliche Beihilfe ist und diejenigen, die für die Tonnagebesteuerung optieren, im Ergebnis regelmäßig begünstigt.
Die bloße Behauptung der Steuerschuldnerin, in Bezug auf einen Teil der Forderungen (Hauptforderung II) sei ihr kein Bescheid zugegangen, rechtfertigt im Streitfall gleichfalls nicht die Annahme eines Verstoßes gegen den ordre public und folglich eine AdV der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.
Zwar hat der EuGH entschieden, dass die ersuchte Behörde die Beitreibung einer Forderung ablehnen kann, wenn die Entscheidung, auf der die Forderung beruht, nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist[23]. Auch hat der Bundesfinanzhof bei einem ‑immerhin zugegangenen- Vollstreckungsersuchen in ausländischer Sprache unter Hinweis auf die fehlende Rechtsbehelfsbelehrung, die kurze Rechtsbehelfsfrist und die mangelnde Möglichkeit, bei Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, einen Verstoß gegen den ordre public für möglich gehalten[24].
Im Streitfall hat die Steuerschuldnerin den mangelnden Zugang jedoch lediglich unsubstantiiert behauptet und keine Anstrengungen zur Glaubhaftmachung unternommen. Dies wäre geboten gewesen, da nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten davon auszugehen ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat ein ordnungsgemäßes Verfahren durchgeführt und das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachtet hat. Das bloße Bestreiten des Zugangs steht einer Beitreibung aufgrund eines Beitreibungsersuchens nicht entgegen[25].
Ein Verstoß gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) besteht auch nicht darin, dass der um Beitreibung ersuchende EU-Mitgliedstaat seinen Zinsforderungen angeblich einen Jahreszinssatz von 7 Prozent zugrunde gelegt hat. Erforderlich wäre vielmehr, dass die Vollstreckung einer derartigen Forderung in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde, was nicht erkennbar ist.
Die Steuerschuldnerin hat nicht substantiiert dargelegt und das Finanzgericht hat auch nicht festgestellt, dass in den beizutreibenden Forderungen überhaupt Zinsansprüche enthalten sind, die mit einem Zinssatz von 7 Prozent berechnet worden sind.
Es ist völlig offen, ob es sich um Zinsen handeln soll, welche denen vergleichbar sind, die in Deutschland einhalb Prozent pro Monat betragen (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) oder um etwa den Säumniszuschlägen vergleichbare Zinsen, die in Deutschland 1 Prozent pro Monat betragen (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO), also 12 Prozent pro Jahr. Verglichen damit stünde die Vollstreckung einer mit einem Zinssatz von 7 Prozent berechneten Zinsforderung ohnehin nicht in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung Deutschlands, unabhängig von etwaigen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Zinshöhe. Auch darf eine (Zins-)Vorschrift nicht isoliert betrachtet, sondern muss im Gesamtzusammenhang mit den übrigen einschlägigen Vorschriften des Mitgliedstaats gesehen werden. Auch dazu äußert sich die Steuerschuldnerin nicht. Im Übrigen hat die Vollstreckung auch nach deutschem Recht erst dann zu unterbleiben, wenn das BVerfG die Verfassungswidrigkeit der Norm festgestellt hat (vgl. § 79 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ‑BVerfGG-); Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit genügen nicht. Sie rechtfertigen somit auch nicht die Annahme, dass die Vollstreckung einer derartigen Forderung in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung Deutschlands stünde.
Dass in dem ersuchenden EU-Mitgliedstaat generell kein vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird, wurde von der Steuerschuldnerin weder belegt noch vom Finanzgericht festgestellt. Die Steuerschuldnerin hat auch nicht aufgezeigt, welcher nicht hinnehmbare Gegensatz zur Rechtsordnung Deutschlands hieraus resultieren würde, wenn man unterstellt, dass es in dem EU-Mitgliedstaat keine Möglichkeit gibt, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.
Im Streitfall bestehen somit keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen i.S. des § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO.
Die Vollziehung der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen hat für die Steuerschuldnerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO).
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist eine Vollstreckung unbillig, wenn sie oder einzelne Vollstreckungsmaßnahmen dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen, der durch kurzfristiges Zuwarten oder eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden kann. Die Härten, die mit jeder Vollstreckung verbunden sind, sind dabei nicht gemeint.
Im Streitfall ist die Vollstreckung nicht unbillig, da in Betracht kommende alternative Vollstreckungsmaßnahmen nicht ersichtlich sind, die Steuerschuldnerin nach eigenen Angaben auch zu einer Sicherheitsleistung nicht in der Lage ist, die von der Steuerschuldnerin begehrte AdV ohne Sicherheitsleistung ‑wie ausgeführt- zu einer isolierten Begünstigung anderer Gläubiger oder der Anteilseigner bzw. Gesellschafter führen würde und voraussichtlich zu einem endgültigen Forderungsausfall bei dem ersuchenden Staat. In einem derartigen Fall überwiegt das öffentliche Interesse an der Beitreibung.
Da hiernach keine AdV zu gewähren ist, muss der Bundesfinanzhof auch nicht über eine Sicherheitsleistung entscheiden. Bei Änderung der Umstände, insbesondere wenn die Steuerschuldnerin die für eine Sicherheitsleistung erforderlichen Mittel aufbringen oder für sie weniger belastende, gleichwertige andere Vollstreckungsmaßnahmen aufzeigen kann, bleibt es ihr unbenommen, einen neuen AdV-Antrag zu stellen und vorzutragen, dass die Vollziehung der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen unter den geänderten Umständen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge habe. Soweit sie jedoch weiterhin der Sache nach einen Erlass begehrt, müsste sie dieses Anliegen an den ersuchenden Staat herantragen.
Aus diesen Darlegungen folgt, dass die Beschwerde der Steuerschuldnerin unbegründet ist. Denn hiernach bestehen bei der im vorliegenden Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung anhand der präsenten Akten keine Zweifel daran, dass die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen rechtmäßig sind. Die Vollziehung hat für die Steuerschuldnerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Eine AdV der streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen kommt somit nicht in Betracht.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 30. Juli 2020 – VII B 73/20 (AdV)
- Hessisches FG , Beschluss vom 19.05.2020 – 4 V 540/20[↩]
- vgl. u.a. BFH, Beschluss vom 25.11.2005 – V B 75/05, BFHE 212, 176, BStBl II 2006, 484, m.w.N.[↩]
- BFH, Beschluss vom 31.01.2002 – V B 108/01, BFHE 198, 208, BStBl II 2004, 622, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 21.07.2009 – VII R 52/08, BFHE 226, 102, BStBl II 2010, 51, unter II. 4.a[↩]
- vgl. FG Hamburg, Urteil vom 04.02.2010 – 3 V 254/09, EFG 2010, 848 zur Vorgängervorschrift[↩]
- vgl. etwa BFH, Urteil vom 18.07.2000 – VII R 101/98, BFHE 192, 232, BStBl II 2001, 5[↩]
- vgl. auch BFH, Urteil vom 11.12.2012 – VII R 70/11, BFHE 239, 501, BStBl II 2013, 475, Rz 10, 19 ff.[↩]
- vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23.05.2019 – 1 BvR 1724/18, WM 2019, 1179, m.w.N.; EuGH, Urteil Donnellan, EU:C:2018:282, ABl.EU 2018, Nr. C 211, 5, m.w.N.[↩]
- vgl. auch BFH, Urteil in BFHE 239, 501, BStBl II 2013, 475, Rz 26[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 226, 102, BStBl II 2010, 51[↩]
- BFH, Urteil vom 26.09.2019 – V R 36/17, BFH/NV 2020, 86, Rz 13[↩]
- vgl. auch Hess. FG, Beschluss vom 08.06.2020 – 12 V 643/20, EFG 2020, 1056, Rz 25[↩]
- BFH, Beschluss vom 28.11.2016 – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393[↩]
- vgl. FG Düsseldorf, Beschluss vom 29.05.2020 – 9 – V 754/20 AE(KV), WM 2020, 1365, Rz 34; Rothbächer, Der Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 AO als Teil des Schutzschilds in der Corona-Krise, Deutsches Steuerrecht 2020, 1014, 1020; Katemann, Stundungsanträge und Vollstreckungsmaßnahmen in Zeiten der Corona-Krise, AO-StB 2020, 223, 228[↩]
- vgl. etwa die Nachweise bei Jatzke in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑HHSp‑, § 258 Rz 13[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Kyrian vom 14.01.2010 – C‑233/08, EU:C:2010:11, Slg. 2010, I‑177[↩]
- BFH, Urteil vom 03.11.2010 – VII R 21/10, BFHE 231, 500, BStBl II 2011, 401[↩]
- BVerfG, Beschluss in WM 2019, 1179, m.w.N.; BFH, Urteil vom 28.11.2017 – VII R 30/15, BFH/NV 2018, 405, Rz 16; Jatzke in HHSp, § 256 AO Rz 20[↩]
- BGH; vom 24.04.2014 – VII ZB 28/13, BGHZ 201, 22, NJW 2014, 2363[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 231, 500, BStBl II 2011, 401; BGH, Beschluss vom 26.08.2009 – XII ZB 169/07, BGHZ 182, 188, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 24.02.2015 – VII R 1/14, BFH/NV 2015, 801; in BFHE 239, 501, BStBl II 2013, 475; EuGH, Urteil Kyrian, EU:C:2010:11, Slg. 2010, I‑177[↩]
- BStBl I 2000, 1049, 1053[↩]
- EuGH, Urteil Donnellan, EU:C:2018:282, ABl.EU 2018, Nr. C 211, 5[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 231, 500, BStBl II 2011, 401[↩]
- vgl. BVerfG, Beschluss in WM 2019, 1179, Rz 33[↩]