Nach § 44 Abs. 1 FGO ist in den Fällen, in denen ein außergerichtlicher Rechtsbehelf gegeben ist, die Klage -vorbehaltlich der §§ 45 und 46 FGO- nur zulässig, wenn das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist.

Die Prüfung der Frage, ob das Vorverfahren ganz oder teilweise erfolglos geblieben ist, setzt voraus, dass der Verfahrensgegenstand des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens und der Streitgegenstand des Klageverfahrens in objektiver und subjektiver Hinsicht übereinstimmen[1].
Den (objektiven) Umfang des Verfahrensgegenstands des Einspruchsverfahrens bei einem nicht eingeschränkten Einspruch gegen einen von der Familienkasse erlassenen Ablehnungsbescheid hat der Bundesfinanzhof im Urteil vom 04.08.2011[2] näher definiert. Danach umfasst das Einspruchsverfahren als fortgesetztes Verwaltungsverfahren bei einem Ablehnungsbescheid, der sich auf den Zeitraum „ab“ einem bestimmten Monat (nicht „von … bis“) bezieht, nicht nur die Monate bis zur Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids, sondern -sofern im Einspruchsverfahren eine sachliche Prüfung stattfindet- auch die Monate bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung.
Zum Streitgegenstand eines sich hieran anschließenden finanzgerichtlichen Klageverfahrens hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand einer Inhaltskontrolle gemacht werden kann, in dem die Familienkasse den Kindergeldanspruch geregelt hat[3]. Der zeitliche Regelungsumfang eines Ablehnungsbescheids wird durch die Klageerhebung nicht verändert. Insbesondere ist das gerichtliche Verfahren keine Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens[4]. Würde ein Kläger mit seiner Klage über diesen Zeitraum hinaus Kindergeld begehren, wäre sie insoweit unzulässig[4]. Soweit der Kläger daher nicht -ggf. trotz eines vom Vorsitzenden gemäß § 76 Abs. 2 FGO erteilten Hinweises auf eine zutreffende Antragstellung- ausdrücklich etwas anderes beantragt, ist der Klageantrag nach der recht verstandenen Interessenlage des Klägers dahin auszulegen, dass er nicht über den zulässigen Streitgegenstand hinausgeht[5].
Nach diesen Grundsätzen hat das Finanzgericht im vorliegenden Streitfall nicht über einen Kindergeldanspruch entschieden, über den noch kein Einspruchsverfahren stattgefunden hat:
Da die Familienkasse im Einspruchsverfahren eine sachliche Prüfung des Kindergeldanspruchs vorgenommen hat, umfasste der Verfahrensgegenstand des Einspruchsverfahrens den Kindergeldanspruch bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung.
Der Streitgegenstand des Klageverfahrens reichte nicht über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinaus.
Eine Erweiterung des Streitgegenstands ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass der Kläger die Kindergeldgewährung „ab Juni 2012“ beantragt hat.
Auch wenn der Kläger mit diesem Antrag nur den Beginn des Streitzeitraums bezeichnet hat, war sein Antrag -da der Kläger auch nicht ausdrücklich etwas anderes begehrt hat- nach dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften dahin auszulegen, dass das Kindergeld bis zum Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung begehrt wird. Folglich bestand -entgegen der Auffassung der Familienkasse- auch kein Anlass für das Finanzgericht, die Klage für den nachfolgenden Zeitraum als unzulässig abzuweisen.
Eine Erweiterung des Streitgegenstands lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass das Finanzgericht die Familienkasse im Tenor des Urteils nach § 101 Satz 1 FGO zur Kindergeldgewährung „ab Juni 2012“ verpflichtet hat.
Die Urteilsformel (§ 105 Abs. 2 Nr. 3 FGO) ist ebenfalls der Auslegung zugänglich, wozu erforderlichenfalls auch auf die übrigen Urteilsinhalte (Tatbestand, Entscheidungsgründe, Antrag des Klägers) zurückgegriffen werden kann[6]. Insoweit ist im Streitfall nicht davon auszugehen, dass das Finanzgericht mit der Tenorierung „ab Juni 2012“ eine ab Juni 2012 in alle Zukunft gerichtete Verpflichtung zur Kindergeldfestsetzung ausgesprochen hat. Vielmehr ergibt sich aus den Entscheidungsgründen, dass das Finanzgericht sich im Rahmen des Antrags des Klägers gehalten und nicht über den von der Familienkasse geregelten Zeitraum hinaus entschieden hat. Der Hinweis des Finanzgericht, wonach die Frage, ob dem Kläger auch für den Zeitraum zwischen September 2010 und Mai 2012 Kindergeld zustehe, wegen eines entsprechend ausdrücklich beschränkten Klageantrags nicht streitgegenständlich sei, bezieht sich nur auf den Zeitraum vor Juni 2012. Aus ihm ergibt sich indessen nicht, dass das Finanzgericht hinsichtlich des Zeitraums ab Juni 2012 unbeschränkt geprüft und über den Gegenstand des Einspruchsverfahrens hinaus entschieden hat.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 25. September 2014 – III R 56/13
- vgl. z.B. BFH, Urteile vom 16.11.1984 – VI R 176/82, BFHE 143, 27, BStBl II 1985, 266 zu einem Fall mangelnder Übereinstimmung in objektiver Hinsicht; vom 24.04.2007 – I R 33/06, BFH/NV 2007, 2236 zu einem Fall mangelnder Übereinstimmung in subjektiver Hinsicht; vgl. auch Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 44 FGO Rz 176 ff.; von Beckerath in Beermann/Gosch, FGO § 44 Rz 93 ff.[↩]
- BFH, Urteil vom 04.08.2011 – III R 71/10, BFHE 235, 203, BStBl II 2013, 380[↩]
- BFH, Urteil vom 22.12 2011 – III R 41/07, BFHE 236, 144, BStBl II 2012, 681[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 236, 144, BStBl II 2012, 681[↩][↩]
- BFH, Urteil vom 27.09.2012 – III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544[↩]
- BFH, Beschluss vom 25.10.2006 – VIII B 205/05, juris; Lange in HHSp, § 105 FGO Rz 25, § 110 FGO Rz 54, jeweils m.w.N.[↩]




