Um eine steuerpflichtige Lieferung ausführen zu können, muss der Lieferer selbst tatsächlich Verfügungsmacht innehaben. Für einen Übergang der Verfügungsmacht ist zivilrechtlicher (unmittelbarer oder mittelbarer) Besitz nicht erforderlich, die (innere) Vorstellung von Sachbeteiligten ohne Feststellung entsprechender objektiver Umstände ist nicht hinreichend.

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer u.a. die Lieferungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die ein Unternehmer oder in seinem Auftrag ein Dritter den Abnehmer oder in dessen Auftrag einen Dritten befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht).
Diese Bestimmung setzt Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL; vormals Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern) in nationales Recht um. Gemäß Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, grundsätzlich als Lieferung von Gegenständen.
Nach ständiger Rechtsprechung erhält der Begriff „Lieferung von Gegenständen“ i.S. der MwStSystRL eine dem Unionsrecht eigene autonome und einheitliche Auslegung[1]. Danach bezieht sich der Begriff „Lieferung von Gegenständen“ nicht auf die Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen, sondern erfasst jede Übertragung eines körperlichen Gegenstands durch eine Partei, die die andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer[2].
Hiervon ist bei der Übertragung von Substanz, Wert und Ertrag auszugehen, die allerdings häufig mit der Übertragung bürgerlich-rechtlichen Eigentums verbunden ist[3].
Zwar können Gegenstände auch ohne zivilrechtliche Eigentumsverschaffung geliefert werden, z.B. wenn dem „Lieferer“ die Befähigung, rechtlich über die Gegenstände zu verfügen, fehlt[4]. Allerdings kann nur derjenige einem anderen Verfügungsmacht verschaffen, der selbst tatsächlich die Verfügungsmacht innehat[5].
Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. März 2020 – XI R 7/18
- vgl. EuGH, Urteile De Fruytier vom 03.06.2010 – C‑237/09, EU:C:2010:316, HFR 2010, 892, Rz 22; Enteco Baltic vom 20.06.2018 – C‑108/17, EU:C:2018:473, HFR 2018, 672, Rz 85[↩]
- EuGH, Urteile British American Tobacco International und Newman Shipping vom 14.07.2005 – C‑435/03, EU:C:2005:464, HFR 2005, 1033, Rz 35; De Fruytier, EU:C:2010:316, HFR 2010, 892, Rz 24; Evita‑K vom 18.07.2013 – C‑78/12, EU:C:2013:486, HFR 2013, 857, Rz 33; Enteco Baltic, EU:C:2018:473, HFR 2018, 672, Rz 86[↩]
- BFH, Urteile vom 09.09.2015 – XI R 21/13, BFH/NV 2016, 597, Rz 20; vom 06.04.2016 – V R 12/15, BFHE 253, 475, BStBl II 2017, 188, Rz 18, jeweils m.w.N.[↩]
- vgl. EuGH, Urteil PPUH Stehcemp vom 22.10.2015 – C‑277/14, EU:C:2015:719, HFR 2015, 1182, Rz 44; BFH, Urteil vom 08.09.2011 – V R 43/10, BFHE 235, 501, BStBl II 2014, 203, Rz 20, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 16.04.1975 – V R 2/71, BFHE 115, 535, BStBl II 1975, 622, Rz 8; Neubert in Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 102; Nieskens in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 3 Rz 663; Slapio in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, § 3 Rz 181[↩]