Das Finanzgericht verstößt gegen den klaren Inhalt der Akten, wenn es seine Entscheidung maßgeblich auf eine Zeugenaussage oder Unterlagen stützt, wobei weder die protokollierten Bekundungen des Zeugen noch die in den Akten befindlichen Unterlagen die durch das Finanzgericht gezogenen Schlussfolgerungen stützen.

Wegen dieses Verfahrensfehlers (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 96 Abs. 1 Halbsatz 1 FGO) sind die Urteile des Finanzgerichts aufzuheben und die Sachen nach § 116 Abs. 6 FGO an das Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt u.a. dann vor, wenn das Finanzgericht eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht. Entsprechendes gilt, wenn die Entscheidung des Finanzgericht auf einer Zeugenaussage beruht, die mit den protokollierten Bekundungen eines Zeugen nicht im Einklang steht[1].
Dies traf in den hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fällen zu: Nach den Ausführungen des Finanzgericht in den angefochtenen Urteilen soll der Zeuge E bekundet haben, die Klägerin habe den täglichen Kontrolltermin der S stets für die Zeiträume abbestellt, in denen sie sich in ihrer Wohnung aufgehalten habe. Hieraus ergebe sich i.V.m. den Protokollen der S, dass die Klägerin vom 11.02.2008 bis 26.05.2008 und ab dem 19.08.2008 keine Kontrollen ihrer Wohnung habe durchführen lassen.
Dies widerspricht der im Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 21.08.2017 festgehaltenen Aussage des Zeugen E. Ausweislich dieses Protokolls hat der Zeuge E bekundet, die Kontrollen seien von der Klägerin telefonisch abgesagt worden, wenn sie in ihrer Wohnung anwesend gewesen sei. Wie oft dies der Fall gewesen sei, könne er ‑der Zeuge E- nicht mehr sagen. Nicht protokolliert ist, dass die Abbestellung der Kontrolltermine „stets“ erfolgt ist. Die vom Finanzgericht in die Würdigung einbezogenen Protokolle der S, die einen Nachweis über die Absage der Kontrolltermine durch die Klägerin bei ihrer Anwesenheit in der Wohnung für die Zeit vom 11.02.2008 bis 26.05.2008 und ab dem 19.08.2008 darstellen sollen, befinden sich nicht bei den vorgelegten Akten. Abgeheftet sind nur Protokolle über Kontrollen der S in der Zeit ab 30.12 2008, die einen Rückschluss auf vorhergehende Zeiträume nicht zulassen. Protokolle über Kontrollbesuche der S in der Wohnung können jedoch für die Frage der An- oder Abwesenheit der Klägerin in ihrer inländischen Wohnung nur herangezogen werden, wenn sie vorliegen und aussagekräftig sind und sich die Klägerin dazu äußern konnte.
Die Urteile können auch auf diesem Verfahrensmangel beruhen i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO. Die durch das Finanzgericht angeführten Zeiträume im Jahr 2008, in denen die Klägerin stets die Kontrolltermine der S abgesagt haben und daher sich in ihrer Wohnung aufgehalten haben soll, waren für das Finanzgericht entscheidungserheblich. Auf ihrer Grundlage nahm das Finanzgericht an, die Klägerin habe die inländische Wohnung im Jahr 2008 in einem Umfang genutzt, der über einen bloßen Besuchscharakter hinausgehe. Daher habe sie weiterhin einen inländischen Wohnsitz gehabt und sei zumindest nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG unbeschränkt steuerpflichtig gewesen.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Finanzgericht zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn es die Aussage des Zeugen E und die vermeintlichen Protokolle der S für die Zeit vom 11.02.2008 bis 26.05.2008 und ab dem 19.08.2008 nicht berücksichtigt hätte. Die Verfahren betreffen zwar vom Finanzamt als Zuwendungen gewertete Zahlungen in den Jahren 2007, 2008 und 2010 bis 2012, wobei die erste Zahlung am 21.03.2007 und die letzte Zahlung am 18.07.2012 erfolgt ist. Für die Annahme einer unbeschränkten Steuerpflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b ErbStG ist es erforderlich, dass sich die Klägerin als deutsche Staatsangehörige zum Zeitpunkt der Ausführung der Zahlungen nicht länger als fünf Jahre dauernd im Ausland aufgehalten hat, ohne im Inland einen Wohnsitz zu haben. Daher würde es ausreichen, wenn die Klägerin zumindest bis 18.07.2007 einen inländischen Wohnsitz inne hatte. Auf einen inländischen Wohnsitz im Jahr 2008 käme es insoweit nicht an. Das Finanzgericht hat aber seine Entscheidungen nicht nur auf das Wohnverhalten der Klägerin im Jahr 2007, sondern in maßgeblicher Weise auch auf die Nutzung der inländischen Wohnung im Jahr 2008 gestützt.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 17. Juli 2019 – II B 30/18; II B 30/18; II B 32/18; II B 33/18; II B 34/18; II B 38/18
- BFH, Beschluss vom 22.03.2011 – X B 151/10, BFH/NV 2011, 1165, Rz 11[↩]