Aussetzungszinsen – und die überlange Verfahrensdauer

Die überlange Dauer eines Einspruchs- oder Klageverfahrens steht der Festsetzung von Aussetzungszinsen für dieses Verfahren -auch unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung- nicht entgegen.

Aussetzungszinsen – und die überlange Verfahrensdauer

Der Bundesfinanzhof hat bisher keine materiell-rechtlichen steuerlichen Folgen aus der Verfahrensdauer gezogen.

Für die Zeit vor Inkrafttreten des ÜberlVfRSchG hat der BFH entschieden, dass Rechtsfolge der überlangen Dauer eines Verfahrens jedenfalls nicht der Wegfall des materiellen Steueranspruchs ist[1]. Insbesondere führt eine überlange Verfahrensdauer nicht zur Verwirkung desjenigen Steueranspruchs, der Gegenstand des verzögerten Verwaltungsverfahrens oder Rechtsstreits ist[2].

Im Einzelfall können allerdings die Anforderungen an die Bildung der gerichtlichen Überzeugung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen abzumildern sein, wenn eine überlange Verfahrensdauer dazu führt, dass ein Beweismittel verloren geht (z.B. Versterben eines hochbetagten, wichtigen Zeugen während des vom Finanzgericht verzögert bearbeiteten Klageverfahrens). Eine -darüber hinausgehende- Umkehr der Feststellungslast kann indes allenfalls in Betracht kommen, wenn sie auf ein vorwerfbares Verhalten des jeweils anderen Prozessbeteiligten zurückzuführen ist[3].

In Bezug auf die Festsetzung von Zinsen gilt, dass der Grundsatz von Treu und Glauben der Festsetzung von Nachzahlungszinsen (§ 233a AO) trotz schuldhaft verzögerter Bearbeitung einer Steuererklärung durch das Finanzamt jedenfalls dann nicht entgegen steht, wenn der Steuerpflichtige tatsächlich einen Zinsvorteil hatte, der nicht geringer war als die vom Finanzamt festgesetzten Zinsen[4].

Allein aus einer überlangen Dauer des außergerichtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens, das der Festsetzung von Aussetzungszinsen zugrunde liegt, folgt nicht, dass die Ablehnung eines Antrags auf Erlass der Aussetzungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen rechtsfehlerhaft wäre[5]. Später hat der BFH entschieden, dass die Festsetzung von Nachzahlungszinsen unabhängig von der Höhe eines konkreten Zinsvorteils nicht unbillig ist, wenn der Steuerpflichtige die erwartete Nachzahlung durch einen Antrag auf nachträgliche Erhöhung der Vorauszahlungen hätte vermeiden können[6].

Auch nach Ergehen der Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die letztlich zum Erlass des ÜberlVfRSchG geführt haben, hat der Bundesfinanzhof an der dargestellten Rechtsprechung festgehalten, wonach eine überlange Verfahrensdauer nicht zur Verwirkung materieller Steueransprüche führt[7].

Bundesfinanzhof, Urteil vom 27. April 2016 – X R 1/15

  1. ausführlich BFH, Beschluss vom 13.09.1991 – IV B 105/90, BFHE 165, 469, BStBl II 1992, 148; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 25.02.1994 2 BvR 74, 75/92, HFR 1994, 552; nochmals BFH, Beschluss vom 20.05.1994 – XI B 63/93, BFH/NV 1994, 605; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 22.08.1994 2 BvR 1454/94[]
  2. BFH, Urteile vom 13.12 1995 – XI R 43-45/89, BFHE 179, 353, BStBl II 1996, 232, unter I.; vom 21.03.1996 – XI R 82/94, BFHE 180, 316, BStBl II 1996, 518, unter II.B.04.; vom 16.10.2002 – XI R 41/99, BFHE 200, 529, BStBl II 2003, 179, unter II. 3.; und vom 24.10.2006 – I R 90/05, BFH/NV 2007, 849, unter III. 1.d[]
  3. grundlegend BFH, Urteil vom 23.02.1999 – IX R 19/98, BFHE 188, 264, BStBl II 1999, 407, unter 4.[]
  4. BFH, Urteil vom 08.09.1993 – I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81, unter II. 3.[]
  5. BFH, Urteil vom 21.02.1991 – V R 105/84, BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498, unter II. 3.c bb; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 29.10.1993 2 BvR 693/91, HFR 1994, 551; BFH, Beschlüsse in BFHE 165, 469, BStBl II 1992, 148, unter I. 2.d; und vom 19.02.1996 – I B 86/95, BFH/NV 1996, 725; Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 27.02.1997 1 BvR 1591/96[]
  6. BFH, Urteil vom 19.03.1997 – I R 7/96, BFHE 182, 293, BStBl II 1997, 446[]
  7. vgl. BFH, Beschlüsse vom 31.08.2011 – I B 9/11, BFH/NV 2011, 2011, Rz 14 ff.; und vom 30.08.2012 – X B 27/11, BFH/NV 2013, 180, Rz 17, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 21.05.2013 1 BvR 2473/12; BFH, Beschluss vom 21.10.2013 – III B 147/12, BFH/NV 2014, 358, Rz 3, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch BVerfG, Beschluss vom 30.09.2015 2 BvR 1071/14; BFH, Urteil vom 18.03.2014 – VII R 12/13, BFH/NV 2014, 1093, Rz 14; BFH, Beschluss vom 21.01.2015 – VIII B 112/13, BFH/NV 2015, 800, Rz 6; ebenso FG Münster, Urteil vom 27.08.2014 – 13 K 4136/11 E, EFG 2014, 2031, unter II., Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen durch BFH, Beschluss vom 18.02.2015 – IX B 117/14; Claßen, EFG 2014, 2036[]