Überraschungsentscheidung – oder bloß eine abweichende rechtliche Würdigung?

Eine Überraschungsentscheidung ist gegeben, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.

Überraschungsentscheidung – oder bloß eine abweichende rechtliche Würdigung?

Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Finanzgericht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird[1].

Zwar muss ein -zumal durch einen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater sachkundig vertretener- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen[2].

Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben und wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhaften Begründung geschieht[3].

So verhält es sich aber nicht, nur weil das Finanzgericht dem Vortrag des Klägers nicht folgt, sondern eine eigene, im obliegende rechtliche Würdigung vornimmt, auch wenn das für die Kläger überraschend gewesen sein mag. Ein rechtlicher Hinweis ist insoweit nicht veranlasst, zumal wenn dieser Gesichtspunkt bereits durch das Finanzamt in das Verfahren eingeführt worden ist.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. September 2023 – IX R 19/21

  1. z.B. BFH, Beschluss vom 23.02.2017 – IX B 2/17, Rz 15[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 – 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III. 1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.[]
  3. BFH, Beschluss vom 12.01.2023 – IX B 29/22, Rz 2[]