Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Verfahrensbeteiligten haben einen Anspruch darauf, dass das Gericht sie auch in rechtlicher Hinsicht auf entscheidungserhebliche Erwägungen und Gesichtspunkte hinweist, mit denen sie erkennbar nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen mussten.

Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten Gesichtspunkt stützt und dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlungen nicht rechnen musste. Dies kann unter anderem der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Finanzgericht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird[1].
Im vorliegenden Streitfall hat allerdings das Finanzamt bereits in der Einspruchsentscheidung vom 26.09.2018 darauf hingewiesen, dass das Vermächtnis bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer der Klägerin weder der Besteuerung unterworfen noch als Nachlassverbindlichkeit in Abzug gebracht worden sei. Die Hinzurechnung des Vermächtnisses und dessen Abzug als Nachlassverbindlichkeit waren mithin schon Verfahrensgegenstand im Besteuerungsverfahren. Die Klägerin konnte deshalb nicht dadurch überrascht worden sein, dass das Finanzgericht diese Thematik in den Entscheidungsgründen seines Urteils berücksichtigt hat.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Oktober 2023 – II R 34/20
- BFH, Urteil vom 12.01.2022 – II R 11/20, BFH/NV 2022, 812, Rz 13[↩]








