Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des Rechtsstreits in den Entscheidungsgründen nicht ein, handelt es sich regelmäßig um eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Gleiches gilt, wenn das Gericht den erkennbaren Kerngehalt des Vortrags des Beteiligten nicht ausschöpft.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht dazu, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.
Auch wenn nach einer in der höchstrichterlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vielfach verwendeten Formel grundsätzlich davon auszugehen ist, dass dies geschehen ist, selbst wenn das Gericht Vorbringen in den Gründen seiner Entscheidung nicht ausdrücklich bescheidet, liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände gegeben sind, die verdeutlichen, dass erhebliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist.
So kann es sich verhalten, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des Rechtsstreits in den Entscheidungsgründen nicht eingeht[1].
Vorliegend hatte der Kläger in seiner Klageschrift -entgegen der Annahme des Finanzgerichtes- keinen Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Der Begriff „Wiedereinsetzung“ findet sich in der gesamten Klageschrift nicht. Der Kläger weist in seiner Beschwerdebegründung vielmehr zu Recht darauf hin, dass der Kern seines Vortrags darin gelegen habe, die Klagefrist sei erst am 16.08.2023 abgelaufen, und diese rechtliche Schlussfolgerung nur dann schlüssig sei, wenn man davon ausgehe, dass der Kläger durch die Vorlage des Briefumschlags mit dem Poststempel „12.07.2023“ habe belegen wollen, dass die Einspruchsentscheidung erst am 12.07.2023 zur Post gegeben worden sei. Das erstinstanzlich mit dem vorliegenden Fall befasste Finanzgericht München[2] hat hingegen ausschließlich die wörtliche Erklärung des Klägers herangezogen, die Einspruchsentscheidung sei ihm „laut Poststempel, am 12.07.23 per Post zugestellt“ worden. Damit hat es den -ohne Weiteres erkennbaren- Kern des Vortrags des Klägers aber nicht ausgeschöpft. Die wörtliche Erklärung des Klägers konnte offensichtlich nicht zutreffen. Zum einen kann eine Briefsendung, die -was der Kläger zumindest glaubhaft gemacht hatte- einen Poststempel vom 12.07.2023 trägt, dem Adressaten nicht schon am selben Tage zugehen. Zum anderen ist die Einspruchsentscheidung dem Kläger auch nicht „zugestellt“, sondern mit einfachem Brief übermittelt worden. Das Finanzgericht hätte daher die wörtliche Äußerung des Klägers, bei dem es sich erkennbar um einen juristischen Laien handelt, dahingehend auslegen müssen, dass das wirklich Gewollte im Prozess zum Tragen gekommen wäre. Ergebnis dieser Auslegung hätte -wie vom Kläger in der Beschwerdebegründung zutreffend vorgetragen- nur sein können, dass der Kläger hat vortragen wollen, die Einspruchsentscheidung sei ausweislich des vorgelegten Briefumschlags mit dem Poststempel am 12.07.2023 zur Post gegeben worden, so dass die Klagefrist erst am 16.08.2023 abgelaufen und damit gewahrt worden sei. Mit diesem Kern des -sachgerecht ausgelegten- Vorbringens des Klägers hat sich das Finanzgericht in seiner Entscheidung nicht befasst. Der Kläger hat sich zwar nicht ausdrücklich auf einen Gehörsverstoß berufen. Bei Verfahrensmängeln genügt es aber, wenn der Beschwerdeführer die Tatsachen vorträgt, die den Verfahrensmangel ergeben; er muss nicht auch die verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts bezeichnen[3]. Hier enthält die Beschwerdebegründung sämtliche Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel in Gestalt eines Gehörsverstoßes ergibt.
Der Bundesfinanzhof hielt es daher für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 26. September 2024 – X B 28/24
- vgl. zum Ganzen: BVerfG, Beschlüsse vom 05.07.2013 – 1 BvR 1018/13, MDR 2013, 1113, Rz 14 f.; und vom 17.09.2020 – 2 BvR 1605/16, NJW 2021, 50, Rz 14; BGH, Beschlüsse vom 24.03.2015 – VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125, Rz 11; und vom 23.04.2024 – VIII ZR 35/23, NJW 2024, 2393, Rz 12; BFH, Beschluss vom 13.08.2020 – X B 26/20, BFH/NV 2021, 201, Rz 19 f., alle m.w.N.[↩]
- FG München, Urteil vom 29.02.2024 – 11 K 1562/23[↩]
- BFH, Beschluss vom 19.09.2012 – X B 138/11, BFH/NV 2013, 63, Rz 13[↩]








