Der einheitliche Lebenssachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 AO erstreckt sich im Falle einer Gewinnausschüttung auch auf die Einbehaltung der Steuerabzugsbeträge.

Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO). Diese Regelung gilt sinngemäß auch für Feststellungsbescheide (§ 181 Abs. 1 Satz 1 AO).
Irrige Beurteilung eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist. Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat[1]. Eine Änderung wegen der irrigen Beurteilung des Sachverhalts in einem anderen Bescheid ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Finanzamt insoweit vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat. Der Steuerpflichtige soll vielmehr im Falle seines Obsiegens mit einem gewissen Rechtsstandpunkt an seiner Auffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist. Der Steuerpflichtige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen[2].
Da in Gewinnfeststellungsbescheiden nur die Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden und nicht eine Steuerschuld festgesetzt wird, führt die in § 181 Abs. 1 Satz 1 AO angeordnete sinngemäße Anwendung der Vorschriften über Steuerbescheide auf Gewinnfeststellungsbescheide dazu, dass an die Stelle des Steuerschuldners i.S. des § 157 Abs. 1 Satz 2 AO der Feststellungsbeteiligte als der Inhaltsadressat tritt. Im Anwendungsbereich des § 174 Abs. 3 und Abs. 4 AO hat der BFH deshalb entschieden, dass der Feststellungsbeteiligte nicht Dritter im Sinne der Regelung ist[3].
Der hier zu beurteilende einheitliche Lebenssachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 AO ist darin zu sehen, dass die Vertriebsgesellschaft im Streitjahr Gewinnausschüttungen an ihre Gesellschafter unter Einbehaltung von Steuerabzugsbeträgen vorgenommen hat. Diesen Sachverhalt hat das Finanzamt insoweit zutreffend beurteilt, als es die Gewinnausschüttung der Vertriebsgesellschaft als Sonderbetriebseinnahmen der Gesellschafter bei der Besitzgesellschaft erfasst hat. Es hat den Sachverhalt aber insoweit irrig beurteilt, als es die damit zusammenhängenden, einbehaltenen Steuerabzugsbeträge nicht ebenfalls bei der Besitzgesellschaft als anrechenbar gesondert und einheitlich festgestellt hat.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 10. Mai 2012 – IV R 34/09
- BFH, Urteile vom 02.05.2001 – VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562; und vom 21.08.2007 – I R 74/06, BFHE 218, 487, BStBl II 2008, 277, jeweils m.w.N.[↩]
- BFH, Beschluss vom 21.05.2004 – V B 30/03, BFH/NV 2004, 1497[↩]
- BFH, Urteile vom 15.06.2004 – VIII R 7/02, BFHE 206, 388, BStBl II 2004, 914; und vom 05.11.2009 – IV R 99/06, BFHE 228, 98, BStBl II 2010, 593[↩]






