Die nach § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG durch das Familiengericht zu treffende Entscheidung, welcher von mehreren gleichrangig Kindergeldberechtigten vorrangig bei der Kindergeldfestsetzung zu berücksichtigen ist, entfaltet keine Tatbestandswirkung für das Festsetzungsverfahren der Familienkasse, wenn sie unter Überschreitung des gesetzlichen Entscheidungsrahmens eine nach §§ 62 f. EStG nicht kindergeldberechtigte Person (insbesondere das Kind selbst) zum Berechtigten bestimmt.

Die Familienkasse hat an dem Vorrangbestimmungsverfahren des Familiengerichts nach § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG mitzuwirken, indem sie gegenüber dem Familiengericht diejenigen gleichrangig Kindergeldberechtigten benennt, aus denen das Familiengericht den vorrangig Kindergeldberechtigten auszuwählen hat.
Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Ist das Kind -wie im vorliegenden Fall- nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen und erhält es auch von keinem der Berechtigten Unterhaltsleistungen, so bestimmen zunächst die Berechtigten untereinander, wer vorrangig das Kindergeld erhalten soll. Insoweit wäre im vorliegenden Fall zunächst zu prüfen, ob die Willensbekundungen der Elternteile dahin ausgelegt werden können, dass ein Elternteil einverständlich zum Bezugsberechtigten bestimmt werden sollte.
Fehlt es an einer solchen Bestimmung durch die Berechtigten, so nimmt das Familiengericht auf Antrag eines Berechtigten oder eines Dritten, der ein berechtigtes Interesse an der Zahlung des Kindergeldes hat, die Bestimmung des vorrangig Berechtigten vor (§ 64 Abs. 3 Satz 4, Abs. 2 Sätze 3 und 4 EStG).
Das Familiengericht ersetzt damit die eigentlich den Berechtigten zukommende Entscheidung über den Vorrang zwischen mehreren an sich gleichrangig Berechtigten. Ebenso wie aber die Berechtigten selbst einen Nichtberechtigten nicht zum Berechtigten bestimmen können, kann auch das Familiengericht eine solche Bestimmung nicht vornehmen.
Wer Kindergeldberechtigter ist, bestimmt sich nicht nach § 64 EStG, sondern nach § 62 EStG i.V.m. § 63 EStG. Die Entscheidung hierüber obliegt nach § 70 Abs. 1 EStG der Familienkasse. Dies ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass die Anspruchsberechtigung nach §§ 62 f. EStG von einer Vielzahl von Tatbestandsmerkmalen hinsichtlich der Person des Berechtigten und der Person des Kindes abhängt, über deren Vorliegen das Familiengericht weder befinden soll noch in der Regel befinden kann.
Hieraus ergibt sich auch die Reichweite der Tatbestandswirkung der Entscheidung des Familiengerichts. Sie bezieht sich allein auf die Vorrangbestimmung, nicht hingegen auf die Berechtigtenbestimmung an sich. Kommen als mögliche Berechtigte nur die Person A und die Person B in Betracht, geht eine vom Familiengericht getroffene Entscheidung, die die Person C als vorrangig bestimmt, ins Leere, da sie keine Entscheidung über den Vorrang zwischen A und B trifft.
Der Auffassung des vom Finanzgericht um Änderung seines Beschlusses ersuchten Familiengerichts, wonach einer erneuten Entscheidung des Familiengerichts die Rechtskraft des Beschlusses vom 31.05.2010 entgegensteht, kann sich der Bundesfinanzhof nicht anschließen. Unabhängig von der in der zivilprozessualen Literatur umstrittenen Frage, ob Beschlüsse im Verfahren nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) überhaupt einer materiellen Rechtskraft fähig sind[1], würde diese in einem Fall wie dem vorliegenden bereits deshalb einer neuen Entscheidung des Familiengerichts nicht entgegenstehen, weil sich ihre Wirkung auf den Verfahrensgegenstand beschränkt, über den in dem unanfechtbar gewordenen Beschluss entschieden wurde[2]. Über den Verfahrensgegenstand „Vorrang zwischen der Berechtigung des Vaters der Klägerin und der Berechtigung der Mutter der Klägerin“ hat das Familiengericht jedoch noch gar keine Entscheidung getroffen. Vielmehr hat das Familiengericht ausweislich des Tenors seiner Entscheidung über die „Bezugsberechtigung des Kindes“, und damit über einen anderen, nicht in seiner -durch § 64 Abs. 3 Satz 4, Abs. 2 Sätze 3 und 4 EStG begrenzten- Entscheidungskompetenz liegenden Verfahrensgegenstand entschieden.
Aus der vorbezeichneten Kompetenzverteilung zwischen den Familienkassen, die für die Bestimmung des bzw. der Anspruchsberechtigten zuständig sind, und den Familiengerichten, die in den Fällen des § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG für die Bestimmung des Vorrangs zwischen mehreren gleichrangig Anspruchsberechtigten zuständig sind, ergibt sich als notwendige Konsequenz, dass die Familienkasse an dem Vorrangbestimmungsverfahren des Familiengerichts mitwirken muss. Nur wenn die Familienkasse gegenüber dem Familiengericht genau bezeichnet, unter welchen gleichrangig Anspruchsberechtigten das Familiengericht einen vorrangig Berechtigten auszuwählen hat, kann dieses seiner Aufgabe gerecht werden und Entscheidungen über einen falschen Verfahrensgegenstand vermeiden. Gleiches gilt für das Finanzgericht, sofern dieses über die Frage der Anspruchsberechtigung zu entscheiden hat und sich dort die Vorrangfrage nach § 64 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 EStG stellt.
Aus diesem Grunde erschiene es sinnvoll, wenn die Familienkasse bzw. das Finanzgericht im weiteren Verfahren an das Familiengericht herantritt und auf die bislang ausstehende Entscheidung zum Vorrang zwischen der Anspruchsberechtigung des Vaters und der Mutter der Klägerin hinweist.
Der Grundsatz von Treu und Glauben kann keinen Anspruch des Kindes auf Festsetzung von Kindergeld zu seinen Gunsten begründen. Zwar ist der Grundsatz von Treu und Glauben, wonach jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessene Rücksicht zu nehmen hat und sich zu seinem früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzen darf, auch im Steuerrecht anzuwenden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bringt jedoch der Grundsatz von Treu und Glauben keine Steueransprüche zum Erstehen oder zum Erlöschen, sondern kann allenfalls verhindern, dass eine Forderung oder ein Recht geltend gemacht werden kann. Ein treuwidriges Verhalten kann daher nicht dazu führen, Steuerrechtsfolgen zu begründen oder zu verneinen, die materiell-rechtlich nicht bestehen[3]. Entsprechendes gilt gemäß § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung für Steuervergütungsansprüche wie das Kindergeld. Daher kann der Grundsatz von Treu und Glauben eine Kindergeldberechtigung des Kindes, die das EStG bereits nicht vorsieht, nicht zum Entstehen bringen.
Der Bundesfinanzhof kann daher auch dahingestellt sein lassen, ob und gegebenenfalls aus welcher gesetzlichen Grundlage sich für die Familienkasse eine Pflicht ergibt, ein Kind darüber zu beraten, ob sich bei ihr eingehende Beschlüsse des Familiengerichts in dem durch § 64 EStG gesteckten Rahmen halten, und ob die Familienkasse eine solche Pflicht im vorliegenden Fall verletzt hätte.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 8. August 2013 – III R 3/13
- vgl. zum Meinungsstreit etwa MünchKomm-ZPO/Ulrici, § 48 FamFG Rz 29 ff., m.w.N.[↩]
- MünchKomm-ZPO/Ulrici, § 48 FamFG Rz 24[↩]
- vgl. hierzu etwa BFH, Urteile vom 30.07.1997 – I R 7/97, BFHE 184, 88, BStBl II 1998, 33; vom 08.02.1996 – V R 54/94, BFH/NV 1996, 733; und vom 29.01.2009 – VI R 12/06, BFH/NV 2009, 1105; ebenso Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 164[↩]




