Deutsches Kindergeldrecht und europäische Sozialvorschriften

Hier arbeitenden polnischen Staatsangehörigen, deren Kinder zusammen mit der Kindesmutter in Polen leben, steht in Deutschland kein Kindergeld zu, entschied jetzt das Finanzgericht Düsseldorf und wies zwei bei ihm anhängige Klage unter Hinweis auf das geltende EU-Recht ab.

Deutsches Kindergeldrecht und europäische Sozialvorschriften

Die Kläger, entschied das Finanzgericht Düsseldorf, seien in Polen sozialversicherungspflichtig und hätten dort auch einen Anspruch auf Kindergeld. Dies schließe einen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht aus.

Der von einem polnischen Arbeitgeber entsandte Arbeitnehmer[↑]

In dem ersten Verfahren ging das Finanzgericht Düsseldorf geht davon aus, dass der Kläger für die Zeiträume, in denen er in Deutschland nichtselbständig tätig war, aufgrund der Regelungen der VO (EWG) 1408/71 nur nach polnischem und nicht nach deutschem Recht Anspruch auf Kindergeld hatte.

Ab dem Beitritt Polens zur EU am 01.05.2004 sind die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auf den Kläger anwendbar. Zu diesen Vorschriften zählt die seit 1971 gültige VO (EWG) 1408/71. Diese Verordnung ist allerdings durch die Verordnung (EG) 883/2004 vom 29. April 2004[1] aufgehoben worden, und zwar nach Art. 90 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 mit dem Beginn der Anwendung der VO (EG) 883/2004. Nach Art. 91 Satz 1 VO (EG) 883/2004 tritt diese Verordnung am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft; sie gilt aber nach Art. 90 Satz 2 VO (EG) 883/2004 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung. Die Durchführungsverordnung zu VO (EG) 883/2004 – die Verordnung (EG) 987/2009 vom 16. September 2009 – trat nach ihrem Art. 97 am 10. Mai 2010 in Kraft. Damit hat die VO (EG) 883/2004 ebenfalls erst Geltung ab dem 10.5.2010.

Das Finanzgericht Düsseldorf konnte jedoch offen lassen, ob die VO (EG) 883/2004 und VO (EG) 987/2004, die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltendes Gemeinschaftsrecht sind, auch auf die hier streitigen Zeiträume und damit auf Zeiten vor dem 10.5.2010 angewandt werden können. Sowohl die VO (EWG) 1408/71 als auch die VO (EG) 883/2004 führen vorliegend nämlich nicht zu einem inländischen Kindergeldanspruch des Klägers.

Für den Fall der Anwendung der VO (EWG) 1408/71 gilt Folgendes:

Beim Kläger handelt es sich um einen Arbeitnehmer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71, der den polnischen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit unterliegt, weil er dort sozialversichert ist. Er ging auch während des Streitzeitraums in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Deutschland, einer nicht selbständigen Tätigkeit nach. Damit handelt es sich aus Sicht der VO (EWG) 1408/71 um einen innerhalb der Gemeinschaft zugewanderten Arbeitnehmer. Ein sog. reiner Inlandssachverhalt, d. h. ein Sachverhalt ohne jegliches grenzüberschreitendes Merkmal[2], ist folglich nicht gegeben.

Ob der Kläger der Regelung in Anhang I Teil I E (im Streitzeitraum: Anhang I Teil I D) nicht unterfällt, weil er in Deutschland nicht gegen Arbeitslosigkeit pflichtversichert ist, kann dahinstehen. Denn selbst bei Nichtanwendbarkeit des Anhangs I Teil I E ist damit keine Einschränkung des allgemeinen persönlichen Anwendungsbereichs der VO (EWG) 1408/71 verbunden, sondern lediglich eine Einschränkung ihres persönlichen Anwendungsbereichs hinsichtlich der Familienleistungen. Zwar „verdrängt“ die Definition in Anhang I Teil I E die Definition in Art. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71, jedoch nicht mit Wirkung für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften[3], sondern nur für die Bestimmung des Personenkreises, der Anspruch auf Familienleistungen hat[4]. Auch nach dem Einleitungssatz des Anhangs I Teil I E gilt die Definition ausdrücklich nur „für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung“. Die Regelung in Anhang I Teil I E soll folglich nicht über die Anwendbarkeit eines gesamten Sozialversicherungssystems eines Mitgliedstaats, d. h. über den gesamten sachlichen Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 i. S. ihres Art. 4 entscheiden, sondern nur über den persönlichen Anwendungsbereich hinsichtlich der Leistungsart „Familienleistung“ i. S. von Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h VO (EWG) 1408/71. Damit ist die Frage, welche Rechtsvorschriften nach den Art. 13 ff. VO (EWG) 1408/71 anzuwenden sind, d. h. in die Zuständigkeit welches Mitgliedstaats der Sachverhalt fällt, vorrangig zu prüfen.

Der Kläger unterliegt gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71 den Rechtsvorschriften Polens über soziale Sicherheit und damit nach Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h VO (EWG) 1408/71 auch den polnischen Vorschriften über Familienleistungen, zu denen das Kindergeld bzw. eine vergleichbare ausländische Leistung gehört[5].

Nach Art. 14 Nr. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71, der eine von Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71 abweichende Regelung trifft, unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist. Diese Voraussetzungen liegen im Streitzeitraum vor.

Der Kläger ist im Streitzeitraum ausweislich der Bescheinigung vom 29. Juli 2008 von seinem polnischen Arbeitgeber „C“ zur Arbeitsleistung nach Deutschland entsandt worden. Die Dauer der vom Kläger jeweils erbrachten Arbeitsleistungen überschritt nicht den Zeitraum von zwölf Monaten, denn er war im Jahr 2006 nur für die Dauer von 6 Monaten und im Jahr 2007 für die Dauer von 1 1/2 Monaten in Deutschland als entsandter Arbeitnehmer tätig. Wenngleich die „C“ dem Kläger eine Entsendungszeit vom 21. April 2006 bis 10. April 2007 bescheinigt hat, geht das Gericht entsprechend den vorgelegten Lohnsteuerbescheinigungen davon aus, dass der Kläger lediglich in der Zeit vom 1. Juni 2006 bis zum 31. Dezember 2006 und vom 14. Februar 2007 bis 1. April 2007 in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet hat.

Auf die Frage der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht des Klägers nach § 1 Abs. 3 EStG kommt es an dieser Stelle nicht an, denn für die Zeiten als entsandter Arbeitnehmer und damit für die Anwendung von Art. 14 Nr. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71 ist nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG erheblich, sondern die tatsächliche Arbeitsleistung als nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger während seiner Arbeitstätigkeit in Deutschland eine andere Person abgelöst hat, deren Entsendungszeit abgelaufen war. Damit liegt ein Entsendungsfall im Sinne des Art. 14 Nr. 1 Buchstabe a VO (EWG) 1408/71 vor.

Nach Ansicht des Finanzgerichts Düsseldorf sind die Regelungen der VO (EWG) 1408/71 auch abschließend d.h. dass deutsches Kindergeldrecht auch nicht subsidiär anwendbar ist, wenn nach der VO (EWG) 1408/71 das Recht eines anderen Mitgliedstaats anwendbar ist.

Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO (EWG) 1408/71 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Die Bestimmungen des Titels II der VO (EWG) 1408/71 bezwecken nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden[6]. Davon ist auch das Bundesverfassungsgericht[7] ausgegangen.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat zwar im Urteil vom 20. Mai 2008[8] entschieden, dass dem Wohnsitzstaat, auch wenn der Kindergeldprätendent nach der VO (EWG) 1408/71 nicht dessen Rechtsvorschriften unterliegt, „nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren“. Der Wohnsitzstaat solle durch die VO (EWG) 1408/71 nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren. Ob nach deutschem Recht für diesen Fall ein Anspruch besteht, hatte der EuGH nicht zu entscheiden. Diese Prüfung ist nach seiner Ansicht Sache der nationalen Gerichte.

Den §§ 62 ff. EStG ist nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anwendbar ist, wenn nach dem Wortlaut der VO (EWG) 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden. Ein Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die VO (EWG) 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgeht und deren Anwendungsbereich begrenzt. Dass der Gesetzgeber von einem Anwendungsvorrang des überstaatlichen Rechts ausgeht, zeigt § 1 Abs. 7 BErzGG[9]. Durch diese Vorschrift wurde die Anspruchsberechtigung von Ehegatten von EU-Bürgern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland hinsichtlich des Erziehungsgeldes für den Fall neu geregelt, dass nur der EU-Bürger in Deutschland erwerbstätig ist, nicht aber sein im Wohnsitzstaat lebender Ehegatte. Der Gesetzgeber wollte damit als Reaktion auf das „Hoever und Zachow“-Urteil des Gerichtshofs der Euroopäischen Gemeinschaften[10] das nationale Recht der Regelung der VO (EWG) 1408/71 anpassen[11]. Dieses bestimmt aus seiner Sicht darüber, ob und in welchem Umfang nationales Recht in Zu- und Abwanderungsfällen anwendbar ist.

Sollte die VO (EG) 883/2004 anwendbar sein, ergäben sich gegenüber der auf der VO (EWG) 1408/71 beruhenden Rechtslage bezüglich der Zeiten, in denen der Kläger in Deutschland gearbeitet hat, keine Abweichungen.

Art. 12 VO (EG) 883/2004 regelt, dass eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaates unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht übersteigt und diese Person keine andere Person ablöst. Damit gelten für den Kläger als entsandten Arbeitnehmer auch nach Art. 12 VO (EG) 883/2004 allein die polnischen Vorschriften über die Gewährung von Kindergeld. Im Ergebnis unterscheidet sich Art. 12 VO (EG) 883/2004 in seinem materiellen Gehalt – bis auf die zeitliche Höchstgrenze der Auslandstätigkeit – nicht von Art. 14 VO (EWG) 1408/71.

Darüber hinaus steht dem Kläger auch für die Zeiten, in denen er nicht in Deutschland gearbeitet hat (Januar bis Mai 2006 sowie für den Monat Januar 2007 und von April 2007 bis Dezember 2007), kein Kindergeld nach inländischem deutschem Recht zu.

Soweit der Kläger während der Zeit von Januar 2006 bis Mai 2006 bzw. im Januar 2007 und ab April 2007 als Arbeitnehmer in Polen (oder in einem anderen Mitgliedstaat der EU) tätig war, gilt nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a) VO (EWG) 1408/71 das Recht des Beschäftigungsstaates; damit scheidet inländisches deutsches Recht aus. Auf eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG kommt es in diesem Zusammenhang nicht an[12].

Auch wenn der Kläger in den vorgenannten Zeiten überhaupt nicht tätig gewesen ist und deswegen nicht die VO (EWG) 1408/71, sondern gegebenenfalls nur inländisches deutsches Recht zur Anwendung kommt, besteht kein Kindergeldanspruch.

Der Kläger gehört nämlich bei dieser Sachverhaltsvariante nicht zu den Kindergeldberechtigten i.S.d. § 62 Abs. 1 EStG.

Nach dieser Vorschrift hat Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

Der Kläger erfüllt keine dieser Voraussetzungen.

Anhaltspunkte dafür, dass er in den hier interessierenden Zeiträumen in Deutschland gewohnt oder sich hier aufgehalten hat und deshalb in Deutschland seinen Wohnsitz oder seine gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gibt es nicht.

Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG besteht ebenso wenig, da der Kläger nicht in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen juristischen Person des öffentlichen Rechts gestanden hat.

Auch eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG – auf die sich der Kläger beruft – vermag in Verbindung mit § 62 Abs. 1 Nr. 2 b) EStG keinen Kindergeldanspruch auszulösen.

Eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG kann nämlich nur für die Zeiträume eine Kindergeldberechtigung begründen, in denen der Steuerpflichtige die für die fiktive Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG erforderlichen inländischen Einkünfte im Sinne des § 49 EStG erzielt. Die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht entsteht nämlich nach § 1 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz EStG nur soweit inländische Einkünfte im Sinne des § 49 EStG vorliegen. Der Konjunktion „soweit“ hat nicht nur konditionale Bedeutung („sofern“), sondern beinhaltet auch ein zeitliches Moment mit der Folge, dass die Einkünfte im Sinne des § 49 EStG den Beginn und das Ende der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG markieren[13]. Diese Sichtweise korrespondiert mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Kinderfreibetrag, wonach bei einer nur für einen Teil des Kalenderjahres bestehenden unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG der Kinderfreibetrag nur für diejenigen Monate zu berücksichtigen ist, in denen die unbeschränkte Steuerpflicht bestand hat[14].

Die Rechtslage beim Kindergeld ist identisch mit der des Kinderfreibetrages. Beide Rechtsinstitute sollen (alternativ) die durch Kinder bedingten finanziellen Belastungen von der Besteuerung freistellen, wobei sowohl für den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 Satz 1 und Satz 5 EStG) als auch für das Kindergeld (§ 66 Abs. 1 EStG) das Monatsprinzip gilt, d.h. Kinderfreibetrag bzw. Kindergeld werden nur für die Monate gewährt, in denen die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 32 Abs. 1 – Abs. 5 EStG für den Kinderfreibetrag; §§ 62 ff. EStG für das Kindergeld) erfüllt sind. Dieses Monatsprinzip gebietet es, die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG, auch wenn sie sich steuerlich in einem Jahres-Einkommensteuerbescheid niederschlägt, unter zeitlichen Gesichtspunkten zu begrenzen und exakt ihren Beginn und ihr Ende festzustellen.

Damit besteht für die Zeiten, in denen der Kläger keine Einkünfte i.S.d. § 49 EStG erzielt hat, also die Zeiten, in den er sich nicht in Deutschland aufhielt, auch keine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG und damit auch keine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 b) EStG.

Sollte der Kläger aufgrund seiner monatsweisen Entsendung nach Deutschland ausschließlich Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit erzielt und in den übrigen Monaten in Polen oder in einem anderen EU-Staat gearbeitet haben, ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass dem Anspruch auf Kindergeld für die Monate der Tätigkeit in Deutschland nach Ansicht des Senats Art. 14 VO (EWG) 1408/71 und in den restlichen Monaten Art. 13 der VO (EWG) 1408/71 entgegen stehen. Auf die Regelung des § 1 Abs. 3 EStG kommt es in diesen Konstellationen nicht an.

Dass der Kläger in den Zeiträumen, in denen er weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, beispielsweise inländische Kapitaleinkünfte i.S.d. § 49 Abs. 1 Nr. 5 EStG erzielt hätte, die die Annahme einer fiktiven Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG für weitere Monate gerechtfertigt hätte, hat der Kläger nicht nachgewiesen. Die Feststellungslast für derart anspruchsbegründende Tatsachen obliegt jedoch dem Kläger.

Der bis 12 Monate bei einem deutschen Arbeitgeber tätige Arbeitnehmer[↑]

Arbeitet ein polnischer Staatsbürger nur für drei Monate bei einem deutschen Arbeitgeber, während seine Kinder zusammen mit der Mutter weiterhin in Polen leben, ist der gemäß §§ 62 ff. EStG tatbestandsmäßig vorliegende Anspruch auf deutsches Kindergeld durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen, weil der Kläger auch in dieser Zeit in der polnischen Sozialversicherung ZUS sozialversichert ist.

Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern[15]. Es ist eine Familienleistung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung[16].

Soweit der Kläger im Streitzeitraum in Polen nichtselbständig bei der Firma „F“ tätig war, unterfällt er auf Grund dieser unselbständigen Tätigkeit in Polen gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 1408/71 dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Ohne Bedeutung ist, dass der Kläger für ca. drei Monate eine unselbständige Tätigkeit in Deutschland ausübte. Denn wie sich aus Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und Art. 14 a Nr. 1 Buchst. a VO Nr. 1408/71 ergibt, führt eine kurzfristige Tätigkeit (unter zwölf Monaten) auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht zu einer Änderung der Eingliederung in ein Sozialsystem.

Im Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 ist die Frage, ob dem Kläger ein Anspruch auf Kindergeld zusteht, nach den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 zu entscheiden. Die anzuwendende VO Nr. 1408/71 geht in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 von dem Ausschließlichkeits-Grundsatz aus, nämlich dass alle Personen, die von der Verordnung erfasst werden, den Rechtsvorschriften ausschließlich eines Mitgliedsstaates unterliegen sollen[17]. Wer zu einem bestimmten Zeitpunkt dem System der sozialen Sicherheit eines Landes unterliegt, soll auch nur nach diesem System Kindergeld erhalten. Diese Regelung dient der Gleichbehandlung aller in einem Mitgliedsstaat erwerbstätigen Arbeitnehmer und der Einfachheit der Rechtsanwendung, sie verhindert Anspruchskumulationen und Mitnahmeeffekte.

Die Anwendung des polnischen Rechts auf Familienleistungen ist im Streitfall auch interessengerecht. Der Kläger hat in Polen seinen Familienwohnsitz, er ist dort in die polnische Sozialversicherung eingegliedert, er hat Beiträge entrichtet und Leistungen zu erwarten, und seine Kinder leben in Polen; dagegen entrichtet der Kläger keine Beiträge in die deutsche Sozialversicherung.

Aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 20. Mai 2008[18] ergibt sich nichts anderes. Der EuGH hat ausgeführt, dem Wohnsitzmitgliedstaat könne nicht die Befugnis abgesprochen werden, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, selbst wenn eine Person nach Art. 13 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines anderen Staates unterfalle. Der Wohnsitzstaat solle durch die VO Nr. 1408/71 nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren. Ob allerdings nach deutschem Recht für diesen Fall ein Anspruch besteht, hatte der EuGH nicht zu entscheiden, denn diese Prüfung ist Sache der nationalen Gerichte.

Hiernach hält der erkennende Senat die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts für ausgeschlossen, wenn nach der VO Nr. 1408/71 nur die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden, selbst wenn diese Familienleistungen nur in geringerer Höhe vorsehen bzw. ausschließen[19]. Den §§ 62 ff. EStG ist nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anwendbar ist, wenn nach dem Wortlaut der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden[20]. Ein Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgeht und deren Anwendungsbereich begrenzt. Dass der Gesetzgeber von einem Anwendungsvorrang des überstaatlichen Rechts ausgeht, zeigt § 1 Abs. 7 BErzGG[9]. Durch diese Vorschrift wurde die Anspruchsberechtigung von Ehegatten von EU-Bürgern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland hinsichtlich des Erziehungsgeldes für den Fall neu geregelt, dass nur der EU-Bürger in Deutschland erwerbstätig ist, nicht aber sein im Wohnsitzstaat lebender Ehegatte. Der Gesetzgeber wollte damit als Reaktion auf das EuGH-Urteil vom 10. Oktober 1996[10] das nationale Recht der Regelung der VO Nr. 1408/71 anpassen[11]. Dieses bestimmt aus seiner Sicht darüber, ob und in welchem Umfang nationales Recht in Zu- und Abwanderungsfällen anwendbar ist. Nach alledem hat der Europäische Gerichtshof der Familienkasse nicht die Befugnis abgesprochen, Kindergeld nur im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben zu gewähren, also neben den Regelungen der §§ 31 f., 62 ff. EStG auch die der VO Nr. 1408/71, unter anderem Art. 13 ff., als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden.

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob ein etwaiger deutscher Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG wegen des tatsächlichen Bezugs polnischer Familienleistungen ausgeschlossen wäre.

Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 2. November 2010 – 10 K 1301/10 Kg;
Finanzgericht Düsseldorf, Urteil vom 24. September 2010 – 16 K 4953/08 Kg

  1. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in der Fassung der (Änderungs-) Verordnung (EG) 988/2009 vom 16.09.2009[]
  2. Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach D, I. Kommentierung Europarecht, Art. 73 Rz. 5[]
  3. vgl. die Überschrift des Titels II[]
  4. vgl. EuGH, Urteil vom 05.03.1998 – C-194/96 [Kulzer], Slg. I 1998, 895[]
  5. BFH, Urteile vom 13.08.2002 – VIII R 54/00, BFH/NV 2002, 1581; VIII R 61/00, BFH/NV 2002, 1584, und VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588[]
  6. EuGH, Urteil vom 10.07.1986 – C – 60/85, Luijten, Slg. 1986, 2365[]
  7. in BVerfG, Beschluss vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412[]
  8. EuGH, Urteil vom 20.05.2008 – C-352/06 [Bosmann], HFR 2008, 877[]
  9. i. d. F. des Gesetzes vom 12. Oktober 2000[][]
  10. EuGH, Urteil vom 10.10.1996 – C-245/94 und C-312/94 [Hoever und Zachow], Slg. I 1996, 4895[][]
  11. BT-Drucks. 14/3118, 10[][]
  12. vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 16.03.2010 – 10 K 1829/09 Kg[]
  13. Herrmann/ Heuer/ Raupach, EStG, § 1, Anm. 297 a.E: „Beginn und Ende der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht richten sich nach der Verwirklichung des Tatbestandes des Abs. 3“[]
  14. BFH, Urteil vom 14.10.2003 – VIII R 111/01, BFH/NV 2004, 331[]
  15. konsolidierte Fassung, ABlEG – Nr. L 28 vom 30.01.1997, S. 1[]
  16. BVerfG, Urteil vom 08.06.2004 – 2 BvL 5/00, HFR 2004, 1139[]
  17. BVerfG, Beschluss vom 08.06.2004, a. a. O.; BFH, Urteil vom 13.08.2002 – VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588; EuGH, Urteil vom 20.05.2008 – C–352/06 [Bosmann], HFR 2008, 877, Rn. 17, 19[]
  18. EuGH, Urteil vom 20.05.2008 – C – 352/06, Slg. I 2008, 3827, HFR 2008, 877[]
  19. ebenso FG Düsseldorf Urteile vom 16.04.2010 – 3 K 1401/09 Kg, EFG 2010, 1140; und vom 27.04.2010 – 10 K 3402/08 Kg[]
  20. vgl. auch Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs –DAFamEStG vom 30.09.2009 – St II 2 – S 2280 – 170/09, BStBl I 2009, 1030, die einen Kindergeldanspruch nur dann als gegeben ansieht, wenn weder ein Ausschlusstatbestand nach § 65 EStG „noch nach über- bzw. zwischenstaatlichem Recht vorliegt“, DA 62.1 Abs. 1 Satz 2[]