Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide – und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen

Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, insbesondere die nicht den Vorschriften des § 143 AO entsprechende Aufzeichnung, ist eine Tatsache.

Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide – und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen

Eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann. Dies meint Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art[1]. Keine Tatsachen i.S. des § 173 AO sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen[2].

Die Tatsache, dass der Wareneingang nicht ordnungsgemäß aufgezeichnet worden ist, muss nachträglich bekannt geworden sein.

Eine Tatsache wird nachträglich bekannt, wenn sie das Finanzamt im Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens für den Erlass des ursprünglichen Steuerbescheids noch nicht kannte[3]. Maßgebend hierfür ist die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalls organisatorisch berufenen Dienststelle[4]. Bekannt ist der zuständigen Dienststelle der Inhalt der dort geführten Akten, ohne dass insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters abzustellen ist[5].

Allein aus dem Umstand, dass der Unternehmer zum Zwecke der Gewinnermittlung (nur) die Umsatzsteuerhefte im Finanzamt vorgelegt hatte, lässt sich jedenfalls noch nicht schließen, dass das Finanzamt die unzureichende Erfüllung der Aufzeichnungspflichten kannte. Auch wenn diese Hefte trotz der darin enthaltenen Angaben zu Ausgaben und damit zum Wareneinkauf nicht den Vorgaben des § 143 AO entsprechen, bedeutet das nicht, dass der Unternehmer die nach § 143 AO gebotenen Aufzeichnungen nicht daneben in anderer Form geführt haben könnte.

Kannte das Finanzamt die mangelhafte Erfüllung der Aufzeichnungspflicht nicht, hat es also tatsächlich erst nachträglich Kenntnis erlangt, so könnte lediglich der Grundsatz von Treu und Glauben die Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO einschränken. Dies setzt voraus, dass einerseits dem Finanzamt die Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre, dass andererseits der Steuerpflichtige entweder seiner Mitwirkungspflicht in vollem Umfang genügt hat[6], oder aber sich aus der Abwägung der beiderseitigen Pflichtverletzungen ergibt, dass die Verletzung der Ermittlungspflicht im konkreten Einzelfall die Verletzung der Mitwirkungspflicht deutlich überwiegt[7]. In der Regel aber trifft bei beidseitigen Versäumnissen den Steuerpflichtigen die Verantwortung mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann[8].

Besteht die Änderungsmöglichkeit der Einkommensteuerfestsetzung für die Streitjahre gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, folgt hieraus auch die Änderung der Gewerbesteuermessbescheide gemäß § 35b GewStG für die Streitjahre 2006 und 2007.

Sollte danach die nicht ordnungsgemäße Aufzeichnung des Wareneingangs eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO darstellen und einer Änderung der fraglichen Bescheide für die Streitjahre auch der Grundsatz von Treu und Glauben nicht entgegenstehen, sind die zutreffenden rechtlichen Folgerungen über die Höhe der Betriebsausgaben zu ziehen.

Zunächst ermöglicht die Erkenntnis über die fehlende Ordnungsmäßigkeit der Buchführung die zu einer höheren Steuer führende Schätzung der Höhe der Betriebsausgaben nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO. Die Schätzung nach § 162 AO ist grundsätzlich unabhängig von der Prüfung eines Abzugsverbots nach § 160 AO durchzuführen[9]. Diese Befugnis stünde zunächst dem Finanzamt, im Gerichtsverfahren innerhalb der Grenzen des Verböserungsverbots nach § 96 Abs. 1 Satz 1, 2 FGO dem Finanzgericht zu.

Aber auch die Erkenntnisse des Finanzamt aus den Ermittlungsmaßnahmen der Betriebsprüfung einschließlich des Benennungsverlangens können im Rahmen der Prüfung der Höhe der Betriebsausgaben verwertbar sein.

Die Berücksichtigung des in der Betriebsprüfung gewonnenen Wissens in diesem Sinne beruht nicht auf § 160 AO und ist unabhängig von den Voraussetzungen und Rechtsfolgen dieser Vorschrift möglich und geboten. Es handelte sich um Sachverhaltsermittlungen, die bereits durch § 88 Abs. 1 Satz 1 AO gerechtfertigt sind. § 160 Abs. 1 Satz 1 AO sperrt diese nicht, was § 160 Abs. 1 Satz 2 AO ausdrücklich klarstellt. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen können im Rahmen des Festsetzungsverfahrens auch nach Bestandskraft eines Bescheids verarbeitet werden, wenn und soweit dies durch die entsprechenden Änderungsvorschriften gedeckt ist. Allein der Umstand, dass die entsprechenden Nachfragen ihrerseits auch als Benennungsverlangen nach § 160 AO qualifiziert werden können, ändert hieran nichts.

Es ist jedoch nicht möglich, die nach diesen Maßstäben anzusetzenden Betriebsausgaben aufgrund des nicht erfüllten Benennungsverlangens nach § 160 Abs. 1 Satz 1 AO weiter zu reduzieren, mithin auf Grundlage dieser Vorschrift zu einer weiteren Steuererhöhung zu gelangen.

Der Umfang einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bzw. § 35b GewStG ergibt sich aus den steuerlichen Auswirkungen der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache(n). Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift „soweit Tatsachen …“ ergibt, kann der Steuerbescheid nur punktuell berichtigt werden, nämlich durch die zutreffenden Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache[10]. Anders als unter § 222 der Reichsabgabenordnung, wonach die neue Steuerfestsetzung grundsätzlich so vorzunehmen war, als handele es sich um die erste Veranlagung[11], findet eine Wiederaufrollung der Veranlagung nicht statt[12].

Es wäre eine unzulässige Wiederaufrollung der Veranlagung in diesem Sinne, wenn Betriebsausgaben, die im Rahmen der Ermittlung und ggf. Schätzung nach Maßgabe von II. 3.a, b anzusetzen sind, nach § 160 Abs. 1 Satz 1 AO nicht berücksichtigt würden und so die Steuerfestsetzung über den Korrekturrahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bzw. § 35b GewStG hinaus weiter zuungunsten des Unternehmers geändert würde. Wie bereits unter II. 1. dargestellt; und vom Finanzgericht zu Recht erkannt, begründet weder das Benennungsverlangen selbst noch die (fehlende) Antwort hierauf für sich die Tatbestandsvoraussetzungen einer selbständigen Änderungsvorschrift.

Die Rechtsfolgen des § 160 Abs. 1 Satz 1 AO sind aber auch keine Umstände, die i.S. des § 162 Abs. 1 Satz 2 AO für die Schätzung von Bedeutung sind. Sie dürfen also in die Schätzungshöhe nicht einbezogen werden. § 160 AO ist keine Schätzungsnorm, sondern setzt erst an, soweit Ausgaben nach anderen steuerlichen Regelungen, ggf. auch aufgrund einer Schätzung, abziehbar sind bzw. wären, bei denen also davon auszugehen ist, dass der Aufwand entstanden ist und daher im Rahmen einer Schätzung an sich zu berücksichtigen wäre[13]. In Schätzungsfällen knüpft die Vorschrift mithin erst an das Ergebnis der Schätzung an. Das schließt es aus, ihre Anwendung gleichzeitig über § 162 Abs. 1 Satz 2 AO zur Voraussetzung der Schätzung zu machen.

Hintergrund ist der Umstand, dass § 160 AO mögliche Steuerausfälle verhindern will, die dadurch eintreten, dass der Empfänger der bei dem Leistenden geltend gemachten Betriebsausgaben die Einnahmen nicht erfasst. Auch wenn die Vorschrift dies formell durch die Minderung des Betriebsausgabenabzugs leistet, handelt es sich materiell-rechtlich um eine Inanspruchnahme des Leistenden als Haftender für die fremde Steuerschuld des Empfängers[14], die im Rahmen der Schätzung ein Fremdkörper wäre. Die bei Anwendung des § 160 AO gebotene Schätzung des mutmaßlichen Steuerausfalls beim Empfänger findet erst auf der Ebene des § 160 AO statt und hat daher mit der Schätzung der Betriebsausgaben nach § 162 AO nichts zu tun[15].

Bundesfinanzhof, Urteil vom 9. März 2016 – X R 10/13

  1. so etwa BFH, Urteil vom 06.08.1997 – II R 33/95, BFH/NV 1998, 12[]
  2. BFH, Urteil vom 24.07.1984 – VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785, m.w.N.[]
  3. BFH, Urteil vom 18.03.1987 – II R 226/84, BFHE 149, 141, BStBl II 1987, 416[]
  4. BFH, Urteil vom 23.03.1983 – I R 182/82, BFHE 138, 313, BStBl II 1983, 548[]
  5. BFH, Urteil vom 20.06.1985 – IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492[]
  6. BFH, Urteil vom 13.11.1985 – II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241[]
  7. BFH, Urteil vom 11.11.1987 – I R 108/85, BFHE 151, 333, BStBl II 1988, 115, unter II. 2.; BFH, Urteil vom 18.05.2010 – X R 49/08, BFH/NV 2010, 2225, unter II. 2.a[]
  8. BFH, Urteile vom 20.12 1988 – VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585, unter II. 6.; vom 28.06.2006 – XI R 58/05, BFHE 214, 319, BStBl II 2006, 835, unter II. 1.a[]
  9. vgl. BFH, Urteil vom 24.06.1997 – VIII R 9/96, BFHE 183, 358, BStBl II 1998, 51, unter 2. der Entscheidungsgründe[]
  10. vgl. z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, § 173 AO Rz 153[]
  11. vgl. BFH, Urteil vom 30.01.1969 – V 149/64, BFHE 95, 236, BStBl II 1969, 409[]
  12. so schon BFH, Urteil vom 12.08.1981 – I R 78/78, BFHE 134, 3, BStBl II 1982, 100, Rz 11[]
  13. BFH, Urteil in BFHE 183, 358, BStBl II 1998, 51, unter 2.a; BFH, Beschluss vom 25.07.2012 – X B 175/11, BFH/NV 2013, 44, unter II. 1.b[]
  14. vgl. BFH, Urteile in BFHE 183, 358, BStBl II 1998, 51, unter 2.b cc, sowie vom 10.03.1999 – XI R 10/98, BFHE 188, 280, BStBl II 1999, 434, unter II. 1.[]
  15. vgl. dazu Trzaskalik in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 162 AO Rz 31[]