Der säumige Beteiligte – und die Überraschungsentscheidung

Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Finanzgericht sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.

Der säumige Beteiligte – und die Überraschungsentscheidung

Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom Finanzgericht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird[1]. Zwar muss ein -zumal durch einen Steuerberater sachkundig vertretener- Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen[2]. Er muss aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben.

Im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten hat das Finanzgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zudem darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Es ist im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war[3].

So lag der hier vom Bundesfinanzhof entschiedene Streitfall. Zwischen den Beteiligten war zwar bis zur Entscheidung des Finanzgerichts streitig, ob der Klägerin die Vermietungseinkünfte aus dem Objekt A-Straße zuzurechnen sind. Den Gesichtspunkt, dass die Zurechnung aufgrund eines steuerlich anzu Treuhandverhältnisses erfolgt, hat das Finanzgericht Hamburg jedoch erstmals in seinem Urteil vom 10.01.2023[4] in das Verfahren eingeführt. Weder im Veranlagungs- und Einspruchsverfahren noch im Rahmen des Schriftsatzaustauschs während des finanzgerichtlichen Verfahrens ist dieser Gesichtspunkt angesprochen worden. Ein wegen des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der prozessualen Fürsorgepflicht gebotener Hinweis des Finanzgerichts dazu war nicht erfolgt. Auch dem Protokoll der Sitzung vom 10.01.2023 lässt sich kein Hinweis entnehmen, dass dieser Punkt in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist.

Die Klägerin hat ihr Rügerecht nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (in der Vorinstanz) verloren, da in der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften im Sinne von § 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO liegt[5]. Denn auch wenn die Klägerin an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass das Finanzgericht seine Entscheidung auf einen bisher nicht erörterten Umstand gestützt hat. Stattdessen war das Finanzgericht zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen der Klägerin zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war[6].

Der Bundesfinanzhof hielt es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Das angefochtene finanzgerichtliche Urteil wurde daher von ihm aufgehoben aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung  an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen. Dabei wird das Finanzgericht unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den Anforderungen der Rechtsprechung[7] sowie den Anforderungen an Verträge zwischen Angehörigen (vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 1 AO) genügt.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 10. Januar 2024 – IX B 9/23

  1. z.B. BFH, Beschlüsse vom 23.02.2017 – IX B 2/17, Rz 15; und vom 12.01.2023 – IX B 29/22, Rz 2[]
  2. BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 – 1 BvR 986/91, BVerfGE 86, 133, unter C.III. 1.a; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 119 Rz 15, m.w.N.[]
  3. vgl. BFH, Beschluss vom 19.05.2020 – VIII B 114/19, Rz 6[]
  4. FG Hamburg, Urteil vom 10.01.2023 – 1 K 114/19[]
  5. vgl. u.a. BFH, Beschlüsse vom 28.07.1998 – VI B 76/98, BFH/NV 1999, 200, unter 1.a, m.w.N.; und vom 10.02.2015 – V B 87/14, Rz 13[]
  6. vgl. BFH, Beschluss vom 19.05.2020 – VIII B 114/19, Rz 12[]
  7. vgl. u.a. BFH, Urteile vom 12.07.2016 – IX R 21/15, Rz 23; vom 08.11.2017 – IX R 25/16, Rz 16; und vom 15.11.2022 – IX R 4/20, BFHE 278, 519, BStBl II 2023, 389, Rz 22, jeweils m.w.N.[]