Wendet sich ein Steuerpflichtiger mit Einspruch und Klage gegen eine vorläufige Steuerfestsetzung i.S. von § 165 Abs. 1 AO und begehrt er die Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks, weil die Voraussetzungen hierfür von Anfang an nicht vorgelegen hätten oder die Ungewissheit für eine endgültige Steuerfestsetzung inzwischen entfallen sei, kann er den Vorläufigkeitsvermerk als unselbständige Nebenbestimmung nicht isoliert anfechten[1]. Vielmehr muss er in diesem Fall den Steuerbescheid in Gänze anfechten, da der Vermerk mit dem Bescheid eine Einheit bildet.

Gelangt das Gericht hierbei zu der Entscheidung, der Vorläufigkeitsvermerk sei rechtswidrig, darf es nicht isoliert den Vorläufigkeitsvermerk, sondern muss den gesamten Steuerbescheid aufheben. Andernfalls griffe das Gericht in die ihm verwehrten Verwaltungskompetenzen ein. Endet nämlich das finanzgerichtliche Verfahren mit der Erkenntnis, dass die Voraussetzungen für eine vorläufige Steuerfestsetzung nicht bzw. nicht mehr vorliegen, muss die Finanzverwaltung Gelegenheit haben, ihren durch § 165 AO teilweise suspendierten Verpflichtungen zur vollständigen Sachaufklärung (§ 88 AO) und endgültigen Steuerfestsetzung nunmehr ohne jede Einschränkung nachzukommen. Dies ist nur möglich, wenn der vorläufige Bescheid in vollem Umfang aufgehoben wird[2].
So auch in dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall: Dort lagen die Voraussetzungen für eine vorläufige Festsetzung der Einkommensteuer 2015 gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO bereits zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 06.01.2017 nicht mehr vor.
Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO kann die Finanzbehörde die Steuer vorläufig festsetzen, wenn die Auslegung eines Steuergesetzes Gegenstand eines Verfahrens beim Bundesfinanzhof ist und daher die Höhe einer Steuerfestsetzung ungewiss ist. Diese Ungewissheit endet allerdings, sobald feststeht, dass die Grundsätze der Entscheidung des BFH über den entschiedenen Einzelfall hinaus allgemein anzuwenden sind (§ 165 Abs. 2 Satz 3 AO).
Die entsprechend dem BMF, Schreiben vom 05.11.2015[3] vom Finanzamt insoweit vorläufig festgesetzte Einkommensteuer verlor ihre Ungewissheit, als das BMF bereits mit weiterem Schreiben vom 06.12.2016[4] ‑und somit vor Erlass des angefochtenen Einkommensteuerbescheids- vorgegeben hatte, dass die in der BFH-Entscheidung in BFHE 254, 111, BStBl II 2016, 989 vertretenen Rechtsgrundsätze jedenfalls für Bonuszahlungen, mit denen eigener Aufwand des Steuerpflichtigen erstattet werde, allgemein anzuwenden seien.
Trotz Rechtswidrigkeit des Vorläufigkeitsvermerks hat sich der Kläger neben seiner Begehr, den Vermerk aufzuheben, in seinem Klageantrag darauf beschränkt, die Einkommensteuerfestsetzung betragsmäßig herabzusetzen. Diesem Antrag folgend, war es dem Finanzgericht verwehrt, hierneben den Vorläufigkeitsvermerk aufzuheben.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 6. Mai 2020 – X R 16/18
- u.a. BFH, Urteil vom 25.10.1989 – X R 109/87, BFHE 159, 128, BStBl II 1990, 278, unter 1.[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 159, 128, BStBl II 1990, 278, unter 1.; vom 09.12.2009 – II R 39/07, BFH/NV 2010, 821, unter II. 4.; ebenso Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl., § 165 Rz 68; kritisch dagegen Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rz 176[↩]
- BStBl I 2015, 786[↩]
- BStBl I 2016, 1426[↩]