Akteneinsicht in den Kanzleiräumen

Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten sind keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO[1]. In Ausnahmefällen kann der Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und Waffengleichheit jedoch einen Anspruch auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten begründen. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung des Finanzgericht. Im Rahmen des erforderlichen Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten[1].

Akteneinsicht in den Kanzleiräumen

Die Beschwerde gegen dievom Finanzgericht verweigerte Akteneinsicht in den Kanzleiräumen ist statthaft. Die Entscheidung über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht ist nach § 128 Abs. 1 FGO beschwerdefähig; sie stellt keine prozessleitende Verfügung i.S. von Abs. 2 der Vorschrift dar[2].

Der Bundesfianzhof befand die Beschwerde in hier entschiedenen Fall jedoch als unbegründet. Der angefochtene Beschluss des Finanzgerichts des Saarlands[3] über die Ablehnung des Antrags auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.

Die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 FGO sind nicht erfüllt. Es handelt sich bei den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten nicht um Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO. Auch besteht -ausnahmsweise- kein Anspruch der Kläger auf die Gewährung einer Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten aufgrund des bisherigen Verfahrensablaufs.

Nach § 78 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung (Art. 22 Nr. 8, Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017, BGBl I 2017, 2208) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge, Ausdrucke und Abschriften erteilen lassen. Gemäß § 78 Abs. 3 FGO wird, wenn die Prozessakten -wie vorliegend- in Papierform geführt werden, die Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (Satz 1). Die Akteneinsicht kann, soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen, auch durch Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf gewährt werden (Satz 2).

Diensträume in diesem Sinne sind nicht nur die Diensträume des Gerichts, sondern Räumlichkeiten, die vorübergehend oder dauernd dem öffentlichen Dienst zur Ausübung dienstlicher Tätigkeiten dienen und über die ein Träger öffentlicher Gewalt das Hausrecht ausübt. Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten sind hingegen keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 FGO. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Bundesfinanzhof auf die Ausführungen im BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1235, Rz 10 bis 12 Bezug[4].

Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, in dem dem Prozessbevollmächtigten die Akteneinsicht in dessen Kanzleiräumen zu gewähren ist.

Die Neufassung des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO schließt nicht jedwede Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen aus. Vielmehr bleibt die Übersendung von Akten in die Geschäftsräume eines Prozessbevollmächtigten zum Zwecke der dortigen Einsichtnahme nach wie vor möglich. Sie ist allerdings nicht der Regelfall, sondern bleibt auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung. Dabei sind die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen, d.h. das dienstliche Interesse an einem geordneten Geschäftsgang einerseits (beispielsweise Gefahr von Aktenverlusten bzw. -beschädigungen oder gar -manipulationen, Schutz von potenziellen Beweismitteln [Steuererklärungen mit Originalbelegen], jederzeitige Verfügbarkeit der Akten sowie Wahrung des Steuergeheimnisses gegenüber Dritten) mit dem Interesse an der Ersparnis von Zeit und Kosten im Falle der Gewährung der Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen andererseits. Im Rahmen dieses Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten. Hieraus folgt, dass Unbequemlichkeiten, die regelmäßig mit den ungünstigeren Rahmenbedingungen für eine ungestörte Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen verbunden sein können (z.B. räumliche Enge, Fahrt- und Zeitaufwand), keine Ausnahme von der Regel des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO nach sich ziehen können[5].

Im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens gegen eine vom Finanzgericht getroffene, die Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen ablehnende Entscheidung ist der BFH nicht auf eine Überprüfung der Ermessensentscheidung des Finanzgericht beschränkt. § 102 FGO gilt nur für die gerichtliche Überprüfung von Ermessensentscheidungen von Behörden, nicht dagegen für eine solche gerichtlicher Entscheidungen. Demzufolge ist der BFH als Beschwerdegericht selbst Tatsachengericht und somit gehalten, eigenes Ermessen auszuüben[6].

Nach diesen Maßstäben kommt die Aktenübersendung in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht.

Das Finanzgericht hat in der angefochtenen Entscheidung auch die Möglichkeit, von Verfassungs wegen ausnahmsweise Akten in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten zur Einsicht zu übersenden, gesehen. Es hat die Voraussetzungen eines solchen Ausnahmefalls verneint, weil weder eine körperliche Behinderung des Bevollmächtigten gegeben sei noch die Akten außergewöhnlich umfangreich seien.

Dem pflichtet der Bundesfinanzhof im Ergebnis bei.

Allerdings dürfen die vom Finanzgericht angeführten Umstände für eine ausnahmsweise Aktenübersendung in Kanzleiräume nicht im Sinne abschließender Regelbeispiele verstanden werden. Wann ein Ausnahmefall im Sinne der vorstehenden Grundsätze anzunehmen ist, hängt stets von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab und ist nach den unter 2.c aa dargelegten Kriterien im Rahmen eines Abwägungsprozesses zu entscheiden[7].

Die von den Klägern in der Beschwerdebegründung angeführten Umstände der Berufsverschwiegenheit des Prozessbevollmächtigten und dessen persönliche Zuverlässigkeit begründen nach dem oben dargelegten Regel-Ausnahmeverhältnis keinen Ausnahmefall[8].

Auch der von den Klägern geltend gemachte Umstand, durch die Handhabung des Antrags auf Akteneinsicht während des Verfahrens sei ein so tiefgreifendes Misstrauen an der Gewährung rechtlichen Gehörs durch das Finanzgericht entstanden, dass die Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Bevollmächtigten zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes zuzulassen sei, begründet keinen Ausnahmefall. Eine -über den Wortlaut des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO hinausgehende- Möglichkeit der Akteneinsicht außerhalb von Diensträumen ist unter Berücksichtigung der Vorgaben des Art.19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) aus dem Anspruch der Prozessbeteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sowie aus der zu achtenden Waffengleichheit der Beteiligten anzuerkennen[9]. Im Streitfall ist aber nicht ersichtlich, dass dem Prozessbevollmächtigten der Kläger die Akteneinsicht in seinen Kanzleiräumen zur Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung von Waffengleichheit zu ermöglichen ist.

Soweit sich die Kläger darauf stützen, dem Prozessbevollmächtigten sei die Akteneinsicht nur in unzumutbarer Weise unter Aufsicht in der Geschäftsstelle des Finanzgericht ermöglicht worden, ist darin keine unzulässige Gängelung des Bevollmächtigten zu erkennen. Denn ein Prozessbevollmächtigter hat auch als Berufsträger keinen Anspruch darauf, dass eine Akteneinsicht in Diensträumen ohne Beisein einer/eines dortigen Bediensteten stattfindet[10]. Zudem hat das Finanzgericht jeweils flexibel auf die Akteneinsichtsanträge des Prozessbevollmächtigten reagiert und diesem die Akten sowohl in kopierter Form gemäß § 78 Abs. 1 Satz 2 FGO als auch in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt, obwohl es zu Letzterem nicht gemäß § 78 Abs. 3 Satz 2 FGO verpflichtet gewesen wäre[11]. Ferner hat es zur Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs und weiteren Sachvortrags aufgrund des Vortrags des Prozessbevollmächtigten, die Akteneinsicht habe bislang nicht in der gebotenen Weise stattfinden können, zweimal die mündliche Verhandlung vertagt. Schließlich ist für den Bundesfinanzhof aufgrund des Verfahrensablaufs kein Umstand -außerhalb der hinzunehmenden Unbequemlichkeiten- ersichtlich, aufgrund dessen der Prozessbevollmächtigte nicht in der Lage sein könnte, den Akteninhalt durch eine Einsichtnahme in den Diensträumen des Finanzgericht vollständig zu erfassen und in der Sache umfassend und abschließend vortragen zu können. Denn ihm wurden Kopien und Dateien der Finanzgericht-Akte, der Rechtsbehelfsakte und der Einkommensteuerakte[12] zur Verfügung gestellt und zu den geäußerten Zweifeln an der Vollständigkeit der übermittelten Unterlagen von der Berichterstatterin mitgeteilt, die Einkommensteuerakte umfasse 51 Seiten und sei vollständig kopiert sowie eingescannt worden. Weitere Zweifelsfragen an der Vollständigkeit und Folgerichtigkeit der ihm übersandten Kopien und eingescannten Unterlagen kann der Prozessbevollmächtigte durch eine Akteneinsicht in den Diensträumen des Finanzgericht abschließend mittels eines Abgleichs der ihm vorliegenden Unterlagen und der Originalakten klären.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 13. Juni 2020 – VIII B 149/19

  1. vgl. BFH, Beschluss vom 04.07.2019 – VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235[][]
  2. vgl. BFH, Beschlüsse vom 04.07.2019 – VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235; vom 28.11.2019 – X B 132/19, BFH/NV 2020, 377[]
  3. FG Saarland, Beschluss vom 19.08.2019 – 2 K 1182/16[]
  4. ebenso BFH, Beschlüsse in BFH/NV 2020, 377, Rz 10, 11; vom 06.09.2019 – III B 38/19, BFH/NV 2020, 91, Rz 8 bis 10[]
  5. s. zum Ganzen BFH, Beschlüsse in BFH/NV 2019, 1235, Rz 19; in BFH/NV 2020, 377, Rz 16; offen gelassen im BFH, Beschluss in BFH/NV 2020, 91, Rz 9[]
  6. BFH, Beschluss in BFH/NV 2020, 377, Rz 18[]
  7. BFH, Beschluss in BFH/NV 2020, 377, Rz 16[]
  8. BFH, Beschluss in BFH/NV 2020, 377, Rz 19[]
  9. BFH, Beschlüsse in BFH/NV 2019, 1235, Rz 14 ff.; in BFH/NV 2020, 377, Rz 15[]
  10. BFH, Beschluss in BFH/NV 2020, 377, Rz 23, 25[]
  11. BFH, Beschluss in BFH/NV 2019, 1235, Rz 16, m.w.N.[]
  12. Band 3[]